Ezzes
sagte ihm, dass die meisten Gesetze auch wirklich und wahrhaftig ihren tieferen Sinn besaßen. Problematisch an ihnen war höchstens, dass nicht jede Eventualität mitbedacht werden konnte. Und selbst dafür hatte man eigentlich Vorsorge getroffen, gab es doch für jedes Verbrechen einen entsprechenden Strafrahmen, sodass unter den jeweils gegebenen Umständen die Mindest- ebenso wiedie Höchststrafe verhängt werden konnte. Doch genau diese Rückversicherung des Gesetzgebers würde den drei Frauen überhaupt nichts nützen.
Abermals seufzte Bronstein. Wie sollte er die ganze Angelegenheit nur formulieren? Sicher, es musste die Gerechtigkeit triumphieren. Doch man sollte auch den Angeklagten gerecht werden, dachte er. Und wieder blickte er auf das leere Papier, das vor ihm lag. Nervös nestelte er an seinem Zigarettenetui herum, fingerte eine „Ägyptische Sorte“ aus demselben und stecke sie sich an. Er blies den Rauch aus und schrieb erst einmal das Datum auf den Aktendeckel.
Ohne dass er einen konkreten Grund dafür nennen konnte, fiel ihm plötzlich der Fall Kadivec ein, an dessen Aufklärung er dreieinhalb Jahre zuvor mitgewirkt hatte. Die Kadivec hatte 1923 einen perversen Salon betrieben, in dem sie Kinder zum Gaudium alter Tattergreise sexuell missbrauchte. Dementsprechend hatte die Anklage ihr auch Schändung von Schutzbefohlenen und Verführung zur Unzucht zur Last gelegt. Eigentlich hatte die Kadivec, die damals etwa Mitte vierzig war, keinen einschlägigen Paragraphen des Strafgesetzbuches ausgelassen, denn auch den Verstoß gegen Paragraph 129, Unzucht wider die Natur mit Personen des eigenen Geschlechts, hatte man ihr nachweisen können. Für die Presse war die Sache damals ein gefundenes Fressen gewesen, und sie hatte sofort vom „Wiener Sadistenprozess“ geschrieben. Offiziell hatte die Kadivec irgendein Erziehungsinstitut betrieben, und jene Zöglinge, die sich irgendeines vermeintlichen Vergehens oder einer Verfehlung schuldig gemacht hatten, hatten sich vollkommen entkleiden müssen, ehe sie mittels Ruten, Peitschen und ähnlichem Gerät gezüchtigt wurden. Im Zuge der Erhebungen war dabei zutage gekommen, dass die Kadivec diese Quälerei so geschickt inszeniert hatte, dass den Opfern monatelang der eigentliche Zweck dieser verderblichen Handlungenverborgen blieb. Es dauerte ein ganzes Jahr, ehe eine dreizehnjährige Schülerin sich einer Bekannten anvertraute, wodurch die ganze Causa aufgeflogen war. Pikant an der Sache, so erinnerte sich Bronstein nun, war vor allem der Umstand, dass die Auspeitschungen und die lesbischen Ausschweifungen vor überaus prominentem Publikum stattgefunden hatten. Vor Gericht gekommen waren schließlich die Kadivec selbst, ihre junge Helferin, eine Dame um die dreißig, und fünf noble Herren, für die diese Orgien organisiert worden waren. Ein Burgschauspieler und ein höchstrangiger Magistrat hatten sich noch vor der Hauptverhandlung aus den Fängen der Justiz zu winden vermocht, doch der Industrielle Tausig, der Händler Kotanyi und ein Ophtalmologe namens Bachstez waren mit den beiden Halbweltheroinen auf der Anklagebank gesessen.
Natürlich war das Tun der Kadivec höchst verwerflich, die hohe Strafe, die sie seitdem abzusitzen hatte, in höchstem Ausmaß gerecht, und doch erinnerte sich Bronstein daran, wie schal ihm dieser Triumph gegen die widernatürliche Person damals geschmeckt hatte, denn die Herren waren samt und sonders freigegangen. Wie peinlich war deren Auftritt gewesen! Sie hätten ja überhaupt nicht gewusst, was die Kadivec heimlich so treibe. Sie hätten diese nur zum Zweck des Spracherwerbs aufgesucht. Der Augenarzt, der von einem bekannten Sozi-Anwalt verteidigt wurde, verstieg sich damals sogar zu der Behauptung, er wäre vollkommen irrtümlich in jenes Zimmer geraten, in welchem die Jugendlichen gepeinigt wurden. Und ob des abscheulichen Anblicks, der sich ihm dort geboten habe, sei er unter Schock gestanden, sodass es ihm weder möglich gewesen sei, einzugreifen, noch auch nur den Raum zu verlassen. Nur deshalb habe ihn die Polizei im Zuge ihrer Razzia dort betreten. Die Ausreden der beiden Wirtschaftstreibenden waren ähnlich hanebüchen gewesen.
Während die Kadivec schließlich viele Jahre Kerker ausgefasst hatte, waren die Männer samt und sonders freigegangen, weil, wie es in der Urteilsbegründung geheißen hatte, die Aussagen der Kinder nicht als beweisbildend angesehen werden konnten. Und der Kadivec hatte man ohnehin nicht
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