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F (German Edition)

F (German Edition)

Titel: F (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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ihn.
    «Brauchen Sie Hilfe?»
    Er legte eine Hand um meinen Knöchel. Sein Griff war erstaunlich fest. Die Bahn hielt, die Türen öffneten sich, zwei Frauen stiegen eilig aus, der Waggon war nun fast leer. Er sah mich an. Sein Blick war klar, scharf und aufmerksam, nicht verwirrt, eher neugierig. Ein Rinnsal Blut lief aus seiner Nase und verlor sich im grauen Filz des Bartes. Die Türen schlossen sich, die Bahn fuhr an. Ich versuchte, mein Bein aus seinem Griff zu ziehen. Aber er ließ nicht los.
    Kein anderer Fahrgast blickte her. Wir waren im zweiten Waggon, der Fahrer schien unerreichbar fern. Seine freie Hand griff zu und klammerte sich so fest um mein anderes Bein, dass ich die Fingernägel spürte. Die Bahn hielt, die Türen öffneten sich, wieder stiegen Leute aus, die Bahn wartete kurz, die Türen schlossen sich, und weiter ging es. Ein angebissener Apfel rollte unter einem Sitz hervor, änderte seine Richtung und verschwand unter einem anderen Sitz. Ich konnte nicht weg, der Mann war stärker, als er aussah. Er fletschte die Zähne, blickte fragend in mein Gesicht und schloss die Augen. Ich riss an meinem rechten Fuß, aber ich kam nicht frei. Sein Atem ging hastig, sein Bart zitterte. Er sog scharf die Luft ein, dann spuckte er. Ich fühlte etwas Warmes und Weiches an meiner Wange herablaufen. Er fauchte.
    Da trat ich zu. Er wollte sich aufrichten, aber ich trat ein zweites Mal, und er sank zu Boden. Meine Zehen schmerzten. Ich packte einen der Haltegriffe, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und trat ein drittes Mal. Eine seiner Hände löste sich, die andere nicht, ein Plastiksack fiel um, und Dutzende Papierknäuel rollten heraus: Zeitungsseiten, Buchseiten, Seiten aus Hochglanzmagazinen und Werbebroschüren. Aus dem anderen Sack drang ein Wimmern; mir war, als hätte sich etwas darin bewegt. Die Bahn hielt, die Türen öffneten sich, ich trat auf sein Handgelenk, er stöhnte, und endlich ließ auch die Linke los. Ich sprang hinaus und begann zu rennen.
    Ich rannte lange. Erst als ich nicht mehr konnte, blieb ich stehen und sah keuchend auf die Uhr. Zehn Minuten nach Mitternacht. Mein Geburtstag war vorbei.

    «Er war es nicht», sagte Iwan. «Ganz sicher.»
    «Wer weiß.»
    «Es war nicht der Teufel! Auch wenn dir das recht wäre. Ihr Leute sucht immer nach etwas, das euren Glauben stärkt. Aber er war es nicht.»
    Wir saßen in dem Raum, der einst Arthurs Bibliothek gewesen war. An den Wänden reihten sich Buchrücken, von draußen war das friedliche Geräusch eines Rasenmähers zu hören.
    «Glaube ist nicht so wichtig», sagte ich.
    «Ach.»
    «Der Priester hat die Kraft, zu binden und zu lösen. Egal, was er dabei denkt. Er muss nicht ans Sakrament glauben, damit das Sakrament sich vollzieht.»
    «Und das glaubst du?»
    «Das muss ich gar nicht glauben, es stimmt in jedem Fall.»
    Bald würde Iwan in Oxford studieren. Jeder wusste, dass ihm Großes bestimmt war, und niemand bezweifelte, dass er in zehn Jahren ein berühmter Maler sein würde. Immer hatte ich mich unsicher gefühlt in seiner Gegenwart, immer unterlegen, aber der Katholizismus bot mir plötzlich eine Position, eine Haltung und ein Argument zu allem.
    Iwan setzte zu einer Antwort an, da flog die Tür auf, und er kam ein zweites Mal herein. Obgleich ich darauf vorbereitet war, funktionierte der Zaubertrick, und ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen.
    «Würdest du mir bitte nie mehr dieses Buch hinlegen?» Eric warf eine Ausgabe von Mein Name sei Niemand auf den Tisch. «Ich werde das nicht lesen.»
    «Aber es ist interessant», sagte Iwan. «Ich wüsste gerne, was du –»
    «Interessiert mich nicht. Von mir aus kann er sterben. Ist mir egal, was er schreibt.»
    «Eric meint das nicht so», sagte Iwan. «Er ist nur manchmal theatralisch.»
    «Und du?», fragte Eric mich. «Meinst du das ernst? Beten, Kirche, Priesterseminar? Du meinst das wirklich ernst? Wir sind doch Juden, geht das überhaupt?»
    «Wir sind keine Juden», sagte Iwan.
    «Aber unser Großvater –»
    «Trotzdem», sagte Iwan. «Wir sind leider nichts. Du weißt das.»
    «Martin macht das ohnehin nur, weil er keine Freundin findet.»
    Ich konzentrierte mich darauf, ruhig zu atmen. Auf keinen Fall durfte ich rot werden.
    «Ich bin entsetzt von der Plattheit deines Geistes», sagte Iwan. «Martin ist ein ernsthafter Mensch. Ich weiß, dass du dir das nicht vorstellen kannst, aber er glaubt und will dienen. Du wirst das nie verstehen.»
    Eric starrte mich

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