F (German Edition)
zwanzig, dabei hatte er das erste Kriegsjahr überlebt. Tausende Stunden in aufgewühltem Lehm, Stacheldraht, Granaten, das Pfeifen in der Luft, die Splitter. Als er im Fronturlaub seine Frau und den winzigen Sohn sah, kamen sie ihm wie Fremde vor. Er überlebte ein weiteres Jahr. Inzwischen war er so gewöhnt an den Gedanken, dass er sterben würde, dass er nicht mehr glaubte, es könne tatsächlich passieren. Aber dann traf ihn doch eine Kugel, Stiefel traten auf ihn, und aus reiner Gewohnheit überlegte er, wie er wohl diesmal entkommen werde. Er erstickte am Dreck und kam nie zurück.
Der Großvater meines Vaters lebte fürs Theater und bekam nie die richtigen Rollen. Nicht Hamlet, sondern Güldenstern, nicht Marc Anton, sondern Cicero, nicht Franz, sondern Karl Moor. Seinen zwei Söhnen und zwei Töchtern beschrieb er ausführlich, welche Opfer die Kunst fordere, aber keines der Kinder war begabt. Die Jahre vergingen, nun hoffte er auf König Lear und Prospero. Sein älterer Sohn starb an der Spanischen Grippe, sein jüngerer heiratete ein jüdisches Mädchen, das war ihm nicht angenehm, aber er hatte auch nicht die Kraft, es zu verhindern. Die ältere Tochter heiratete einen Lehrer, die jüngere blieb missmutig im Haus und kochte für ihn und seine Frau.
Er sah seinen ersten Film. Bleiche Figuren tummelten sich auf einer weißen Wand. Er verstand nicht, worüber die Leute lachten, er sah nur Untote, und der Gedanke, dass man bald Menschen dabei würde zusehen können, wie sie einander Kuchen ins Gesicht warfen, lange nachdem sie gestorben waren, kam ihm entsetzlich vor. Ein kleiner Mann mit Schnurrbart, ein riesenhafter Dicker, ein Clown mit grotesk nach unten gezogenem Mund. Die Welt geht unter, dachte er. Eine Weile mag sie noch bestehen, aber es ist alles Täuschung, wie diese Bilder.
Von diesem Tag an stand er nicht mehr auf. Sogar der Ausbruch des Krieges war ihm gleichgültig. Als sein Sohn kam, in Uniform, um sich zu verabschieden, brachte er es fertig, so würdevoll auszusehen, wie der Anlass es erforderte. Er war ja nicht umsonst Schauspieler.
Der Urgroßvater meines Vaters war Arzt gewesen, wenn auch kein guter. Er hatte nur Medizin studiert, weil auch sein Vater Arzt gewesen war. Er betrieb eine kleine Praxis, viele Kranke starben ihm, manche konnte seine Frau behandeln, die klüger war als er. Oft wusste sie, welche Kuren halfen. Dann starb sie ihm auch. Damit sich jemand um die Kinder kümmerte, heiratete er ein zweites Mal. Die neue Frau machte ihn traurig, und noch mehr Kranke starben.
Wann immer er Gelegenheit dazu bekam, erzählte er, dass er als junger Mann Napoleon begegnet sei. In Wirklichkeit hatte er nur einen gebauschten Mantel über einem Pferderücken gesehen, dazu eine Hand in weißem Handschuh. Als er sich endlich zur Ruhe setzen durfte, kam es ihm vor, als hätte der große Feldherr weniger Menschen getötet als er, der schlechte Arzt. Dann starb auch seine zweite Frau. In seinen letzten Lebensjahren war er vollkommen glücklich.
Der Vater des Arztes, ein Arzt auch er, hatte das Talent, die Kranken zu beruhigen, indem er mit ihnen sprach. Meist ahnte er, woran einer litt. Er beschäftigte sich mit den Experimenten Mesmers und lernte, einen Leidenden in den magnetischen Schlaf zu versetzen. Als sein Sohn ebenfalls Arzt wurde, war er froh. Seine Tochter hätte auch gern studiert, sie war klug und begabt, aber er musste es verbieten. Zum Ausgleich fand er ihr einen braven Mann, der gut arbeitete und sie nicht schlug. Mit sechzig Jahren legte er sich ins Bett, atmete aus und kam nie zurück.
Seinen Vater kostete ein Streifschuss die Hand. Er hatte dunkle Haut, keiner wusste, warum, die Mutter hatte ihn allein aufgezogen, irgendwo in Armut. Er wurde Soldat, weil die Werber dachten, dass ein schwarzer Mann stärker sei als ein Weißer. Er marschierte viel, wurde manchmal befördert, zeugte zwischendurch drei Kinder, alle weiß. Schließlich traf eine Kugel seinen Hals, er erstickte am Blut und kam nie zurück.
Sein Vater war nach England gegangen, für die Überfahrt hatte er sich als Schiffsjunge verdingt. Er sparte ein wenig, er versuchte sich als Kaufmann, aber er hatte nicht viel Glück. Einmal kam er mit einem jungen Franzosen ins Gespräch, der die Börse von London besuchte, um darüber zu schreiben. Schwächlich und dürr war der, aber klug, blitzschnell in den Augen und von einer Geisteskraft, wie er sie noch nie erlebt hatte. Wenn man so wäre, dachte er, alles
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