F (German Edition)
sprichst.»
«Das ist die richtige Antwort. Beobachte, leite die Regeln ab. Menschen sind nur selten spontan, meist sind sie Maschinen. Was sie tun, tun sie aus Gewohnheit. Du musst Regeln ableiten, und dann musst du dich an sie halten, als ob dein Leben davon abhinge. Denn das tut es ja. Dein Leben hängt davon ab.»
Ich starrte auf den Tisch. Uraltes Holz, ein Erbstück der Familie, er hatte unserem Ururgroßvater gehört, der angeblich Schauspieler gewesen war. Die schwarze Maserung bildete ein Muster von eigentümlicher Schönheit. Es überraschte mich, dass ich so etwas überhaupt bemerkte, aber dann wurde mir klar, dass nicht ich es war, der das wahrnahm. Es war Iwan.
«Wahrheit, schön und gut», sagte er. «Aber manchmal hilft sie nicht weiter. Frag dich immer, was man von dir verlangt. Sag, was alle sagen, tu, was alle tun. Überleg dir genau, wer du sein möchtest. Frag dich, was der, der du sein möchtest, tun würde. Und dann tu genau das.»
«Wenn die Zelle sich damals nicht geteilt hätte», sagte ich, «es gäbe nur einen von uns.»
«Konzentrier dich!»
«Aber wer wäre das? Ich, du oder ein Dritter, den wir nicht kennen? Wer wäre das?»
«Der Trick ist, dass du es mit dir selbst ausmachen musst. Das ist das Schwierigste. Erwarte von niemandem Hilfe. Und lass dir nicht etwa einfallen, eine Therapie zu machen. Dort lernt man nur, mit sich einverstanden zu sein. Man lernt gute Entschuldigungen.»
Ich sollte ihm sagen, dass er recht hatte, denke ich jetzt, ich hätte keine Therapie machen sollen. Ich möchte mit ihm reden, heute noch, ich muss ihn sehen, ich brauche seinen Rat. Vielleicht könnte ich mir Geld von ihm ausleihen und verschwinden. Ein falscher Pass, ein Flugzeug nach Argentinien, nur ich allein. Noch wäre es möglich.
Ich nehme das Telefon und höre Elses, leider nicht Kathis Stimme. «Ich muss meinen Bruder sprechen. Rufen Sie ihn an, bitten Sie ihn her.»
«Welchen Bruder?»
Ich reibe mir die Augen. «Na welchen wohl!»
Sie schweigt.
«Also rufen Sie ihn an! Jetzt! Sagen Sie ihm, es ist wirklich wichtig. Und schicken Sie endlich Klüssen herein.»
Ich lege auf, verschränke die Arme und versuche, so auszusehen, als wäre ich tief in Gedanken versunken. Plötzlich fällt mir auf, dass ich Klüssen nicht draußen im Vorzimmer gesehen habe. Die Couch war leer. Aber hat sie nicht gesagt, er sei schon gekommen? Wenn er aber schon hier und nicht im Vorzimmer war, bedeutet das …? Besorgt sehe ich mich um.
«Hallo, Adolf!»
Da sitzt er und starrt mich an. Er muss die ganze Zeit schon dagewesen sein. Ich lächle und versuche so dreinzublicken, als wäre es ein Scherz gewesen.
Adolf Albert Klüssen, ein kräftiger Greis von Mitte siebzig, gut angezogen, befehlsgewohnt, die Haut sonnenfaltig, die Augenbrauen buschig, blickt mich an, als hätte er einen Frosch verschluckt, als hätte er heute schon seinen Schlüssel, seinen Pass und seine Brieftasche verloren und wäre dafür noch ausgelacht worden, als hätte man ihn beraubt und danach seinen Sportwagen zerkratzt. Unter den Achseln seines Polohemds hat er dunkle Schweißflecken, aber das liegt wohl an der Hitze und hat nichts zu bedeuten. Adolf Albert Klüssen, Sohn des Kaufhausbesitzers Adolf Ariman Klüssen, Enkel des Kaufhausgründers Adolf Adomeit Klüssen, Spross einer Familie, deren älteste Söhne so lange schon den Namen Adolf tragen, dass sich niemand dazu hat aufraffen können, diese Tradition aufzugeben, sieht mich an, als wäre die ganze Welt verachtenswert. Und dabei weiß er noch nicht einmal, dass er mittellos ist.
«Adolf! Wie schön, dich zu sehen!»
Seine Hand fühlt sich an wie knotiges Holz. Ich hoffe, die meine ist nicht feucht von der Nervosität. Immerhin habe ich meine Stimme gut im Griff, sie zittert nicht, und auch mein Blick ist fest. Er sagt etwas darüber, dass ich seine E-Mails nicht beantwortet hätte, und ich rufe, dass das ein Skandal ist und dass ich meine Sekretärin hinauswerfen werde. Schnell lege ich ihm drei bedruckte Blätter hin: Zahlen, die gar nichts bedeuten, darunter die Namen der bekanntesten risikolosen Blue-Chips: Apple, Berkshire Hathaway, Google und Mercedes-Benz, viele Tortengraphiken, alles so leuchtend bunt wie nur möglich.
Aber heute hilft das nicht. Er blinzelt, dann legt er die Blätter weg, beugt sich vor und sagt, er habe etwas Grundsätzliches auf dem Herzen.
«Etwas Grundsätzliches!» Ich stehe auf, gehe um den Tisch herum und setze mich auf die Tischkante. Immer
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