F (German Edition)
Irgendwann wird er mich verklagen, dann wird die Staatsanwaltschaft mit ihren Ermittlungen beginnen, aber Zeit wird vergehen, und bis dahin kann ich noch mein Haus bewohnen und morgens zur Arbeit fahren. Es wird Herbst werden, Blätter werden fallen, und mit etwas Glück bin ich noch nicht verhaftet, wenn der Schnee kommt.
Der Mann ist nicht mehr da. Ich halte mir die Hand vor die Augen. Das Sonnenlicht im Fenster ist so grell, dass es die Tönung des Glases zu durchdringen scheint. Ich nehme den Telefonhörer und bitte Else um ein Glas Wasser. Da steht es schon, ich trinke. Als ich es absetze, sehe ich einen Priester, den ich kenne. Er ist noch dicker als beim letzten Mal. Wann ist mein Bruder hereingekommen? Und das Glas in meiner Hand, wer hat es so schnell gebracht?
«Kann ich etwas für dich tun?», frage ich vorsichtig. Gut möglich, dass ich ihn mir nur einbilde. Ich darf mir keine Blöße geben.
Er druckst herum, murmelt etwas, will sich offenbar nicht festlegen.
Ich nehme ein Blatt Papier und tue, als ob ich lese. Meine Hände zittern. Die Sache mit Klüssen hat mich mitgenommen.
Er fragt irgendetwas.
Also wohl keine Einbildung, Phantome fragen nie. Aber seine schwarze Kleidung verunsichert mich, ich muss an Exorzismen denken. Dann sagt er etwas über einen Würfel, und erst denke ich, er spricht vom Glücksspiel, aber da stellt sich heraus, dass er sein Hobby gemeint hat, und um mir den Schwachsinn nicht anhören zu müssen, frage ich ihn, ob er schon gegessen hat, stehe auf und gehe hinaus. Draußen bleibe ich bei Elses Tisch stehen, beuge mich vor, rieche ihr Parfum, zwinge mich, sie nicht anzufassen, und frage, warum in aller Welt mein Bruder hier ist.
Das sei doch ihre Aufgabe gewesen, sagt sie. Meinen Bruder anrufen! Und ihn bitten, schnell herzukommen. Das hätte ich angeordnet.
«Ach so», sage ich. «Klar. Richtig. Ich weiß.» Ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht. Warum sollte ich das angeordnet haben?
Schnell gehe ich zum Lift. Das Telefon vibriert in meiner Tasche, ich nestle es hervor. Also was jetzt, willst du kommen oder nicht?
Jetzt? , schreibe ich zurück. Ich warte, mein Bruder ist nicht zu sehen. Warum sind alle immer so schwerfällig? Elende, das Leben vergällende Langsamkeit! Und warum antwortet sie nicht?
Da kommt er. Die Lifttüren gehen auf, wir betreten die Kabine, und mir fällt wieder Der Exorzist ein. Man darf Priester nicht unterschätzen. Ich erkundige mich nach Horoskopen. Das wollte ich immer schon wissen: Ob sie funktionieren, müsste man doch statistisch prüfen können. Man braucht nur hundert Leute, die am gleichen Tag ums Leben gekommen sind, entweder gibt es signifikante Gemeinsamkeiten in ihrem Horoskop oder nicht! Warum macht das keiner?
Er glotzt mich dumm an. Offenbar habe ich ihn gekränkt. Wein in Blut verwandeln, das geht in Ordnung, aber Horoskope sind unter seiner Würde. Ich ziehe das Telefon heraus. Keine Antwort. Da kommen wir auch schon unten an.
Wir gehen durch die Eingangshalle, die Glastüren öffnen sich. Großer Gott, ist das heiß. Mein Telefon vibriert. Kannst du um fünf?
Warum nicht jetzt??? , schreibe ich. Neben mir hupt ein Auto, mir fällt auf, dass ich mitten auf der Straße bin. Da drüben ist schon das Restaurant, ich gehe jeden Tag dorthin. Die Einrichtung ist abscheulich, die Kellner sind herablassend, das Essen schmeckt mir nicht. Aber das ist gleichgültig, ich habe ohnehin selten Hunger, die Medikamente verhindern es.
Der Kellner rückt den Tisch weg, damit mein fetter Bruder sich auf die Sitzbank zwängen kann. Ich bestelle für uns beide, was ich jedes Mal bestelle: Spaghetti alle vongole. Ich mag keine Muscheln, aber es ist ein standesgemäßes Gericht, nicht zu viel, nicht zu schwer, nicht zu wenige Kalorien, nicht zu billig.
Das Telefon vibriert. Gut, dann jetzt.
Martin fragt mich nach Wirtschaft und Prognosen, ich antworte irgendetwas. Warum sitzen wir hier, was will er? Jetzt kann ich nicht , schreibe ich. Wie stellt sie sich mein Leben vor, glaubt sie, ich kann jederzeit alles stehen und fallen lassen, nur weil sie sich gerade allein fühlt? Am späten Nachmittag, ja?
Ich warte. Keine Antwort. Mein Bruder fragt, ich antworte, ohne mir selbst zuzuhören. Ich sehe auf das Telefon, lege es weg, nehme es wieder, lege es weg, nehme es wieder, warum antwortet sie nicht?
«Wenn du jemandem eine Nachricht schickst», frage ich, «und er antwortet, und du antwortest wieder und bittest um schnelle Antwort, und es
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