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F (German Edition)

F (German Edition)

Titel: F (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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ich sehe es nie wieder.
    Irgendwann stand er nicht mehr auf. Der Fernseher lief, er blieb im Bett und sprach leise vor sich hin. Meist erzählte er eine Anekdote aus seiner Jugend, immer wieder die gleiche: Ein Trinkgelage kam darin vor, eine Mutprobe unter Soldaten, eine Partie russisches Roulette. Ich hörte sie jeden Tag, während ich ihm Hühnersuppe einflößte, während ich ihm auf die Toilette half, während ich sein Kissen zurechtklopfte und ihn zudeckte wie ein Kind. Er wurde schmal, seine Augen wurden trübe, und mit einem Mal hatte er auch seine Anekdote vergessen. Oft saß ich an seinem Bett und dachte nach, ob der, den ich gekannt hatte, sich wirklich noch in diesem geschrumpften Wesen versteckte.
    Denn es gab weiterhin klare Momente. Einmal fand ich ihn aufgerichtet, sein Kopf wandte sich mir zu, er schien mich wiederzuerkennen, und er fragte, wann wir nach Paris fliegen würden. Er gab mir den Rat, mich auch wieder meiner eigenen Malerei zu widmen. Das sagte er wirklich: auch wieder meiner eigenen. Danach versank er mit trügerisch weisem Schildkrötenlächeln in sich selbst, ein wenig Speichel lief ihm übers Kinn, und als ich die Laken wechselte, war sein Gesichtsausdruck so leer, als hätte er seit einer Ewigkeit nicht gesprochen.
    Ein andermal fragte er unvermittelt nach seiner Kontonummer. Ich musste sie auf einen Zettel schreiben, denn er wollte bei der Bank anrufen, und als ich sagte, dass das um zwei Uhr morgens unmöglich sei, begann er zu schreien, zu bitten und zu drohen. Als ich dann doch das Telefon brachte, wusste er schon nichts mehr damit anzufangen.
    Oft vernahm ich seine Stimme im Traum. Wenn ich ihn nach dem Aufwachen neben mir schnarchen hörte, schien es mir für ein paar Minuten gewiss, dass er wirklich mit mir gesprochen hatte, aber wann immer ich mich daran zu erinnern versuchte, wusste ich nur noch, dass er mich um etwas gebeten und dass ich es ihm zugesagt hatte. Doch was es gewesen war, wusste ich nicht mehr.
    Als er im Sterben lag, saß ich unsicher und peinlich berührt daneben und fragte mich, was der Moment von mir verlangte. Ich wischte seine Stirn ab, nicht weil es nötig gewesen wäre, sondern weil mir Stirnabwischen in dieser Situation passend erschien, und wieder wollte er mir etwas mitteilen: Seine Lippen formten Worte, aber seine Stimme gehorchte nicht, und als sich Papier und Stift gefunden hatten, war er zum Aufschreiben schon zu schwach. Für eine Weile starrten mich seine Augen an, als versuchte er, mit schierer Willenskraft Gedanken zu übertragen, aber es misslang, seine Augen brachen, sein Brustkorb senkte sich, und ich dachte: So sieht das aus, so ist es also, so geht es vor sich. So.
    Seither kommen regelmäßig unbekannte Eulenböck-Bilder auf den Markt. In der Hand eines anderen Erben hätte alles eine unglückliche Wendung nehmen können, aber er hatte keine Familie. Keine Tante aus Übersee und kein entfernter Cousin tauchten auf, da war zum Glück nur ich.
    Ich muss mich auf den Weg machen, die Betreuung eines Nachlasses ist ein vollwertiger Beruf. Heute habe ich noch ein Treffen zum Kaffee, ein Abendessen und ein zweites Abendessen vor mir: Besprechungen, Projekte, mehr Besprechungen. Zweifelnd sehe ich noch einmal auf die Straße hinunter, auf der sich die drei jungen Männer gerade in Bewegung setzen. Ein vierter, blond und in einem roten Hemd, kommt ihnen entgegen, und die drei umringen ihn.
    Ich wende mich vom Fenster ab und betrachte Urlaubsfoto Nr. 9 , als sähe ich es zum ersten Mal. Die Farben, die ich verwendet habe, sind über dreißig Jahre alt, die Leinwand ebenfalls: eine von mehreren, die ich noch zu Heinrichs Lebzeiten gekauft und in seinem Atelier abgestellt habe. Er hat sie damals berührt: Sollte je ein forensischer Experte sie untersuchen, wird er des Meisters Fingerabdrücke finden.
    Ich schließe die Tür auf, gehe hinaus und schließe hinter mir ab. Der bessere Teil des Tages ist vorbei, der Rest wird Verwaltung und Gerede sein. Rumpelnd macht der Lift sich auf den Weg nach unten.
    Ich trete auf die Straße. Herrje, ist das heiß. Die vier jungen Männer da vorne scheinen nur Schemen, die Helligkeit erschwert es, auf einen von ihnen den Blick zu heften. Ich muss es nur bis zur U-Bahn schaffen, dort unten wird es kühler sein. Ich wünschte, ich könnte ein Taxi rufen, aber leider gibt es keine Telefonzellen mehr. Manchmal wäre es von Vorteil, wenn ich ein Mobiltelefon hätte.
    Etwas stimmt da nicht. Sie streiten sich. Die drei

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