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F (German Edition)

F (German Edition)

Titel: F (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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nämlich nicht um die Gegenstände gehe, sondern ums Malen der Gegenstände, weil sie also – und hier hatte er sie ernst angesehen und leise gesprochen, als ob er ein Geheimnis verriete – das Malen selbst malten. Dann hatte er sie gefragt, ob sie das verstanden habe, in dem gleichen Ton, in dem ihr Vater ihr immer diese Frage stellte, und sie hatte so genickt, wie sie immer nickte. Ihr Onkel war ihr stets ein wenig unheimlich gewesen, weil er ihrem Vater so ähnlich sah und dessen Stimme hatte und trotzdem ein anderer war. Es gab schon seltsame Dinge. Leute malten Fische, um das Malen zu malen, Fahrräder kippten um, wenn man sie auf ihre zwei Räder stellte, waren aber auf diesen Rädern ganz stabil, wenn man losfuhr, es gab Menschen, die genau wie andere Menschen aussahen, und manchmal verschwand jemand einfach so an einem Sommertag aus der Welt.
    «Getroffen!» Georg reichte ihr den Bogen. Drüben, auf der anderen Seite des Gartens, steckte ein Pfeil zitternd in der Zielscheibe. «Aber Vorsicht, sie sind sehr spitz!»
    Eine Weile schossen sie abwechselnd. Obwohl es kein großer Bogen war, war er schwer zu spannen; manchmal traf Marie, aber öfter ging es daneben. Georg hatte mehr Übung. Bald schmerzten ihre Finger von der Bogensehne.
    Lena kam vorbei, kletterte auf den Zaun und sah ihnen zu. Ihre Mutter hatte sie für eine Stunde fortgeschickt. Ein Mann mit einer teuren Lederjacke, erzählte sie, sei gekommen, er habe ihr Schokolade mitgebracht.
    Georg schoss und traf, Marie schoss und traf nicht, Georg schoss und traf nicht, Marie schoss und traf nicht, Marie schoss und traf nicht, Georg schoss und traf nicht, Marie schoss und traf, im Nebenhaus öffnete sich ein Fenster, und eine Frau rief, das seien doch hoffentlich keine spitzen Pfeile. Alle drei schworen, es seien keine.
    Allmählich machte die Dämmerung das Zielen schwierig. Der Baum schien größer als zuvor, aber seine Konturen verschwammen, und es fiel immer schwerer, ihn ins Auge zu fassen. Marie zielte noch einmal, und der gespannte Bogen zitterte, denn ihr Arm war schon erschöpft. Sie hielt die Luft an. Der Moment dauerte und dauerte, als könnte sie mit dem Bogen die Zeit anhalten. Und er dauerte immer noch. Dann ließ sie los. Der Pfeil zeichnete seine Bahn in die Dämmerung, streifte den Stamm und verschwand im Gras.
    Sie verabschiedete sich von Lena und Georg und ging über die Straße. Woher kam es, dass der Abend anders roch als der Morgen? Auch der Mittag hatte seinen eigenen Geruch. Aus einem Busch flog der Schatten eines Vogels auf, sie zuckte zurück: ein Flattern, ein Krächzen und Wirbeln, schon war er über ihr, schon in der Höhe verschwunden. Sie legte den Kopf in den Nacken. Wenn Iwan wirklich tot war, dann war er jetzt auch dort oben, und die Wolken behinderten nicht seinen Blick, weil für die Toten alle Dinge durchsichtig waren.
    Der Kiesweg knirschte unter ihren Schuhen. Durch das Küchenfenster sah sie Ligurna in einem Kochtopf rühren, das Telefon festgeklemmt zwischen Wange und Schulter. Das Fenster war gekippt, es wäre ein Leichtes gewesen zuzuhören. Aber normalerweise lohnte sich das nicht, bei den Erwachsenen ging es selten um etwas Interessantes. Sollte sie noch einmal auf den Baum klettern? Nicht bis aufs Dach, das traute sie sich allein nicht, aber vielleicht bis ans Fenster des Arbeitszimmers? Dann schien es ihr doch zu gefährlich. Im Dunkeln sah man die Zweige nicht gut, man konnte fallen, und wenn unerwartet eine Hexe im Baum saß, war man ihr hilflos ausgeliefert.
    Sie ging durch die Halle, die Treppe hinauf, ins Esszimmer. Hier stand schon ihr Teller: ein Stück braunrotes Fleisch mit Sauce, etwas Reis, ein Häufchen Erbsen, daneben eine Glasschüssel mit Pudding. Sie befühlte das Fleisch. Warm, weich und faserig fühlte es sich an, lebendig und tot zugleich. Sie öffnete das Fenster und warf es hinaus. So machte sie es oft. Draußen würde es wohl ein Tier holen, jedenfalls war es nie vorgekommen, dass Essen, das sie abends hinausgeworfen hatte, am nächsten Morgen noch da war. Stehenlassen durfte sie nämlich nichts. Wenn sie zweimal hintereinander nicht aufaß, erzählte Ligurna es Mama, und die kam dann, nahm ihre Hand und fragte, ob sie Sorgen habe, ob etwas sie bedrücke, ob es etwas gebe, das sie ihr nicht erzählen wolle.
    Natürlich gab es das, denn es tat gut, Geheimnisse zu haben. Mama wusste nichts von dem Geld, das Marie im Kinderzimmer versteckt hatte: dreihundertzwanzig Euro, gefaltet und

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