F (German Edition)
feuergroß da – selbst wenn man die Lider zukniff, brannte sie noch in den Augen.
Georg erzählte oft davon, dass sein Vater Polizist war und er daheim mit der Pistole spielen durfte, aber so oft er es auch ankündigte, er zeigte sie ihnen nie. Er erzählte auch Geschichten über Räuber, Mörder, Betrüger und Krokodile. Ein Krokodil konnte stundenlang reglos liegen, es sah dann aus wie ein Baumstamm, aber plötzlich schnappte es zu. Er war in Afrika gewesen, auch in China, in Barcelona und in Ägypten.
Sie sprachen darüber, was wohl mit Iwan geschehen war. Vielleicht war er nach Amerika gefahren. Leute reisten oft heimlich nach Amerika, ein Schiff brachte sie hinüber, manchmal auch ein Flugzeug, dort trugen sie Hüte und Stiefel.
«Oder vielleicht China», sagte Lena.
«China ist zu weit weg», sagte Marie. «Außerdem sprechen sie dort Chinesisch.» Sie spürte die Sonne auf ihrer Haut, sie hörte das Rauschen des Apfelbaumes und das leise Brummen einer Hummel an ihrem Ohr.
«Kann er nicht Chinesisch lernen?», fragte Georg.
«Niemand lernt Chinesisch», sagte Marie, denn es war zu schwierig, es hatte keinen Sinn, wie sollte man aus diesen Strichen Worte lesen? Was, wenn auch die Chinesen nur so taten, als könnten sie es? Das war doch möglich. Sie tat ja auch so, als ob sie verstünde, was ihr Vater meinte, wenn er ihr wieder einmal sagte, dass die große Krise ihn gerettet habe.
«Und wenn er tot ist?», fragte Georg.
Marie zuckte die Achseln. Wie warm die Ziegel waren. Man hätte einschlafen können, aber das durfte nicht passieren, schließlich musste man die Fersen immer fest in die Regenrinne stemmen, um nicht die Schräge hinabzurutschen. «Wenn er tot ist, hätte man ihn gefunden.»
«Er könnte im Wald sein», sagte Georg.
«In was für einem Wald?»
«Im Wald eben. Wo Wölfe sind.»
Die Hummel ließ sich irgendwo nieder, wartete kurz und flog wieder auf. Marie blinzelte. Eine Wolke sah aus wie ein Fahrrad, auf dem ein dicker Mann saß, der einen Hut hatte, aber keinen Kopf.
«Geht der Raum da oben immer weiter?», fragte Lena. «Oder hört er irgendwo auf?»
«Vielleicht gibt es eine Wand», sagte Marie.
«Aber selbst wenn», sagte Georg. «Man kann immer weiter fliegen. Man könnte ein Loch in die Wand machen. Es kann nicht zu Ende sein. Es kann nie zu Ende sein.»
«Aber wenn die Wand fest ist», sagte Lena. «Ganz, ganz fest?»
«Könnte man immer noch ein Loch machen», sagte Georg.
«Die festeste Wand der Welt?»
«Dann stell dir vor, du hast die spitzeste Spitze.»
Eine Weile sagten sie nichts. Das Gebrumm der Hummel wurde höher, tiefer und wieder höher.
«Der Matthias ist eigentlich blöd», sagte Lena dann.
«Stimmt», sagte Georg.
«Warum denn?», fragte Marie.
«Marie und Matthias», sang Lena. «Matthias und Marie. Marie und Matthias. Matthias und Marie.»
«Wann ist Hochzeit?», fragte Georg.
Ohne die Augen zu öffnen, ballte Marie die Faust und schlug zu. Sie traf so genau die Mitte seines Oberarms, dass Georg aufschrie. Marie mochte Matthias auch nicht besonders, und natürlich wussten die beiden das. Es war nur das übliche Gerede auf dem Dach.
Einmal hatte Mama sie beim Hinunterklettern erwischt. Sie hatte sich furchtbar aufgeregt, Georg und Lena hatten eine Weile nicht mehr zu Besuch kommen dürfen, auch Jo und Natalie nicht, obwohl Natalie noch nie auf dem Dach gewesen war. Marie hatte fest versprochen, etwas so Gefährliches nie wieder zu tun, aber sie hatte die Finger in der Hosentasche gekreuzt, damit es nicht galt, und zum Glück hatte Mama es bald wieder vergessen. Mama vergaß schnell. In letzter Zeit war sie selten zu Hause, Kostüme mussten probiert und Leute getroffen werden, auch zu telefonieren hatte sie viel, und regelmäßig musste sie sich mit dem Scheidungsanwalt beraten, einem höflichen Herrn mit Bart, großen Ohren und Robbenaugen.
Zweimal in der Woche kam ihr Vater und nahm sie in den Zoo oder ins Kino mit. Sie interessierte sich nicht besonders für Tiere, und die Filme waren immer falsch ausgewählt – er begriff einfach nicht, was man mit elf Jahren sehen wollte. Manchmal besuchte sie ihn auch im Pfarrhaus. Es war ein Geheimnis, dass er dort wohnte, sie durfte es niemandem erzählen, nicht den Großeltern, nicht Ligurna, keinem in der Schule und vor allem nicht Mama.
Im Pfarrhaus roch es nach Mottenkugeln und Essen. Ihr Vater schlief auf einer Couch neben dem Fernseher unter einem Bild, auf dem Jesus aussah, als hätte er
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