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F (German Edition)

F (German Edition)

Titel: F (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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Zahnweh. Er trug immer Jeans und ein rot kariertes Hemd, manchmal trug er auch eine Schirmkappe, auf der I Love Boston stand. Als sie ihn gefragt hatte, wann er das Hemd denn wasche, hatte er irritiert geantwortet, er habe noch zwei andere, die genauso aussähen. Er besaß keinen Computer mehr, kein Telefon, kein Auto und nur ein einziges Paar Sportschuhe. Sie hatte ihn noch nie so gut gelaunt erlebt.
    «Die Krise!», rief er, als sie durch den Zoo gingen. «Niemand hat es geahnt. Es ist wie der Weltuntergang. Noch vor acht Monaten wusste keiner davon!»
    Sie blieben stehen. Ein Gnu erwiderte mit leeren Augen Maries Blick.
    «Die Immobilienderivate. Wenn man das vorhergesehen hätte! Milliarden hätte man machen können! Hat aber keiner vorhergesehen. Die Kurse sind im freien Fall, die Banken können selbst kein Geld leihen.» Er klatschte in die Hände. «Und jeder weiß es, alle reden ständig davon, keiner wundert sich, verstehst du? Keiner hat Fragen! Verstehst du?»
    Marie nickte.
    Er ging in die Hocke. «Alle verlieren Geld», sagte er ihr ins Ohr. «Alle verlieren alles, verstehst du?»
    Marie nickte.
    «Niemand fragt jetzt nach seinem Geld. Man erwartet geradezu, dass es verloren ist, man rechnet damit, weil alle verlieren. Es ist ein Wunder. Kein Klient fragt, wo seine Einlagen geblieben sind.»
    Marie wusste, wie man dreinblicken musste, damit es so schien, als ob man verstünde. Sie benutzte diesen Blick in der Schule, oft reichte er schon für gute Noten. Sie setzte ihn auch immer dann ein, wenn es ihrem Vater einfiel, ihr wichtige Dinge zu erzählen. Er war der Meinung, dass sie einander ähnlich waren und dass sie ihn besser verstand als irgendjemand sonst.
    «Marie», sagte er. «Du verstehst mich besser als irgendjemand sonst.»
    Hilfesuchend blickte sie zum Gnu.
    «Wenn man zum Beispiel … Nur ein Beispiel, Marie! Wenn man Verluste gemacht hat, und man hat darauf gewartet, dass … Aber plötzlich stellt niemand mehr Fragen!»
    «Gehen wir zu den Tigern?»
    Er sprang auf und klatschte wieder in die Hände, so laut, dass eine Frau, die einen Kinderwagen vorbeischob, ihn vorwurfsvoll ansah. «Und Klüssen liegt im Krankenhaus! Das kann dauern, er könnte sterben, wer weiß! Mit dem Sohn werde ich schon fertig. Wer hätte das kommen sehen!»
    Er legte ihr die Hand auf die Schulter und schob sie vorwärts. Es wunderte sie nicht, dass sie zum Ausgang gingen. Auch heute würde sie die Tiger nicht sehen. Ihr Vater ging nie zu den Tigern.
    «Endlich!», rief Georg, als er sie zurückkommen sah. Er hockte auf dem Gartenzaun, auf dem Kopf trug er seine Robin-Hood-Kappe, er hatte einen Köcher umgeschnallt, und in der Hand hielt er einen Bogen. Ihm war offenbar sehr langweilig gewesen.
    «Sind die scharf?», fragte ihr Vater.
    «Spitz. Nicht scharf, spitz. Nein, die sind gar nicht spitz.»
    «Die sehen spitz aus.»
    «Sind sie aber nicht.»
    Er schwieg ein paar Sekunden, bevor er sagte: «Mit spitzen Pfeilen dürft ihr nicht schießen. Das ist zu gefährlich.»
    «Die sind nicht spitz», wiederholte Georg.
    «Wirklich nicht!», sagte Marie.
    «Stimmt das auch?»
    Beide nickten, Georg legte sich sogar die Hand aufs Herz. Aber ihr Vater sah es nicht, weil er zerstreut zur anderen Straßenseite blickte.
    «Das Haus habe ich nie gemocht.»
    «Ich auch nicht», sagte Marie.
    «Warst du mal im Keller?»
    «Es gibt einen Keller?»
    «Nein. Gibt es nicht, und du gehst auch nicht hinunter!»
    «Ist das wahr, dass Sie alles Geld verloren haben?», fragte Georg.
    «Die Krise. Völlig unerwartet. Keiner hat sie kommen sehen. Siehst du dir die Nachrichten an?»
    Georg schüttelte den Kopf.
    «Weißt du, was Derivate sind?»
    Georg nickte.
    «Und was mortgage backed CDOs sind, weißt du das auch?»
    «Ja.»
    «Wirklich?»
    Georg nickte.
    «Passt mit den Pfeilen auf.» Noch einmal sah er besorgt zu dem Haus hinüber, dann strich er Marie über die Wange und ging.
    «Die sind wirklich nicht spitz!», rief Georg ihm hinterher.
    «Versprochen!», rief Marie.
    Während sie ihrem Vater nachsah, fiel ihr wieder Iwan ein. Erst vor kurzem hatte sie verstanden, dass sich das Rätsel vielleicht nie lösen würde. Nie, das hieß: jetzt nicht und auch nicht später und auch nicht viel, viel später, ihr ganzes Leben lang nicht und auch nicht danach. Sie musste oft daran denken, wie er ihr einmal im Museum erklärt hatte, warum Künstler hässliche Sachen wie alte Fische, faule Äpfel oder gekochte Truthähne malten: weil es ihnen

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