F (German Edition)
Er hebt die Hände, um sich Gehör zu verschaffen, wippt nervös auf seinen Füßen. «Dort findest du ihn, dort ist dein Bruder!»
Nein, sage ich, ich bin dort, und das ist hier.
Aber er hört mir nicht zu, so eilig hat er es, die Information erneut loszuwerden: «Jägerstraße 15b, fünfter Stock!» Er hüpft und winkt, von seiner Ruhe ist nichts mehr übrig, tatsächlich verblasst er schon, und ich weiß, ich werde ihn nicht mehr sehen.
Eiskalt ist es, aber ich bin in Sicherheit. Die drei werden mich nicht finden. Die Tür ist versperrt, und selbst wenn sie den Schlüssel haben, ist das Gras zu dicht. Auf und ab steigt alles, vor und zurück, in Wellen alles, auf und ab. Dieses Haus steht nicht immerdar, und selbst das Blau dort draußen bleibt nicht immer blau. Nur ich bleibe, ich muss da sein, mich muss es geben, denn ohne mich wäre all das nicht, weil keiner es sähe. Der kalte Boden hart unter meiner Schläfe. Und ein Wiegen, als wäre ich wieder auf dem Boot.
Weißt du noch, als wir nach Tanger fuhren, du und ich und Mama und Papa, und die Fähre uns abends über die Meerenge trug? Sechs Jahre alt waren wir, und bei der Abfahrt in Algeciras war die Luft voll Blütengeruch und süßem Benzin, die Sterne ein Flimmern um den Kupfermond, und Papa trägt uns beide auf dem Arm, und Mama folgt uns, und auf dem Boden schläft ein dicker Kerl mit Bartstoppeln, den Mund weit offen, seine Brust hebt und senkt sich, und ich ahne, dass ich mich auch an ihn für immer erinnern werde, aber dann stach die Fähre in See, und die Küste wurde ein Lichtflimmern, und neben uns die bleichen Felsen und die Geräusche der Wellen, und alle vier gehören wir zusammen, das wird nie anders sein, und ich weiß, während ich den Kopf auf seine Schulter lege, dass ich gleich einschlafen werde, obwohl ich nicht einschlafen will, Nacht auf allen Seiten, nur die Sterne sehr nah über uns, mehr davon als je, bald wird Afrika auftauchen, nur hat mich jetzt der Schmerz beim Einatmen wieder daran erinnert, dass der Boden so hart ist, und kalt ist es auch wieder, immer geht es auf und ab, und ich denke daran, wie aufgeregt wir beide am ersten Tag gewesen sind, natürlich hat man uns nebeneinandergesetzt, es sollten ja alle merken, dass wir gleich aussehen, und die Eltern stehen hinten an der Wand, und die Lehrerin sagt, seid ihr eigentlich einer oder zwei, und die Frage kommt mir so schwierig vor, dass ich mich zu Papa und Mama umdrehe, aber die lächeln und schweigen, als wollten sie uns bedeuten, dass wir von jetzt an selbst antworten müssen, und schau, dort flattert ein Vogel am Fenster vorbei, ich sehe nicht ihn, nur seinen Schatten im hellen Viereck, ich habe noch nie einen Vogel so langsam fliegen sehen, bald werden wir in Afrika sein, und dann ist es wieder Morgen, ich könnte ihm ja auch hinterher, ich möchte so gerne wissen
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Jahreszeiten
1
Der blühende Apfelbaum stand nahe an der Mauer, man konnte durch die Fenster ins Haus blicken. Im unteren Stockwerk waren der Salon, das Wohnzimmer, das ehemalige Medienzimmer, das jetzt leerstand, und die Bibliothek. Wenn man höher kletterte, sah man durch das Oberlicht in die Eingangshalle und von noch weiter oben direkt ins Arbeitszimmer mit dem Schreibtisch und dem hellen Fleck, wo vor kurzem noch das Strichmännchen gehangen hatte. Wer dann noch Kraft hatte, konnte weiterklettern bis aufs Dach.
Allein hätte Marie sich nicht dort hinaufgewagt, aber mit Georg und Lena war es möglich, denn wenn man zu dritt war, wollte keiner feige sein, und manchmal kam auch Jo mit. Man musste einen Fuß in die Astgabel setzen und den anderen auf die Oberkante des Fensterladens, und dann war es ganz wichtig, nicht nach unten zu sehen. Bloß nicht nachdenken, sondern sich innerlich verschließen, sonst spürte man die Tiefe im Magen, der Schweiß brach einem aus, Angst schoss durch die Glieder, und man hing wie ein Sack. Richtig war es, das Blech der Regenrinne zu fassen, Schwung zu nehmen, ein Knie gegen die Mauer zu drücken und sich nach vorne abzurollen, so konnte man die Finger zwischen die Dachziegel schieben und sich hinaufziehen. Dort saß man dann, den Rücken gegen die Schräge gepresst, die Fersen in der Regenrinne, und konnte über die Baumwipfel und das Dach des Hauses, in dem Georg wohnte, bis zur übernächsten Straße sehen. Am Himmel trieben zerfranste Wolken, an denen der Wind zog und zerrte und riss. Sobald die Wolken sich aufgelöst hatten, stand die Sonne
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