Fabelheim: Roman (German Edition)
nicht.«
Sie blickte auf ihre Hände herab. »Ich muss schrecklich aussehen. Erlaub mir, dir etwas zu zeigen.« Sie drehte sich um und hockte sich hinter den Baumstumpf. Eine Ratte wagte sich einige Schritte aus einem Loch in der Ecke des Schuppens. Als die Frau wieder hinter dem Stumpf hervorkam, versteckte sich die Ratte.
Die alte Frau setzte sich mit dem Rücken zu dem Baumstumpf auf den Boden. Sie hielt eine etwa zwanzig Zentimeter große Puppe aus dunklem Holz in der Hand. Sie hatte keine Kleider an, und auch ihr Gesicht war nicht bemalt. Nur eine schlichte menschliche Figur mit winzigen,
goldenen Häkchen, die als Gelenke fungierten. Aus dem Rücken ragte ein dünner Stock. Die Frau schob eine kleine Schaufel unter die Füße der Puppe und ließ sie tanzen, indem sie den Stock und die Schaufel bewegte. Der Tanz hatte etwas sehr Rhythmisches.
»Was ist das für ein Ding?«, fragte Seth.
»Eine Stockpuppe«, antwortete sie.
»Was?«
»Eine Marionette. Ein Kasper. Ich nenne ihn Mendigo. Er leistet mir Gesellschaft. Komm herein und du kannst es selbst einmal probieren.« zu
»Lieber nicht«, sagte er noch einmal. »Ich begreife nicht, wie Sie hier draußen leben können, ohne verrückt zu werden.«
»Manchmal werden gute Menschen der Gesellschaft anderer überdrüssig.« Sie klang ein wenig verärgert. »Bist du zufällig hierher gekommen? Bist du auf einer Erkundungstour?«
»Nein, ich verkaufe Schokoladenriegel für meine Fußballmannschaft. Es ist für eine gute Sache.«
Sie starrte ihn an.
»Am besten klappt es in reichen Gegenden.«
Sie starrte ihn weiter an.
»Das war ein Scherz. Ich mache Witze.«
Ihre Stimme wurde streng. »Du bist ein unverschämter kleiner Kerl.«
»Und Sie leben mit einem Baumstumpf zusammen.«
Sie funkelte ihn an. »Also schön, mein arroganter junger Abenteurer. Warum stellen wir deinen Mut nicht auf die Probe? Jeder Entdecker verdient eine Chance, zu beweisen, aus welchem Holz er geschnitzt ist.« Die alte Frau zog sich in den Schuppen zurück und hockte sich wieder hinter den Baumstumpf. Als sie an die Tür kam,
hielt sie eine grobe, schmale Schachtel aus ungehobeltem Holz, Draht und langen, herausstehenden Nägeln in Händen.
»Was ist das?«
»Leg die Hand in die Schachtel, um deine Kühnheit zu beweisen, und du bekommst eine Belohnung.«
»Da würde ich noch lieber mit der gruseligen Marionette spielen.«
»Greif einfach hinein und berühre die Rückseite der Schachtel.« Sie schüttelte die Schachtel, und etwas klapperte leise. Die Schachtel war so lang, dass er den Arm bis zum Ellbogen würde hineinschieben müssen, um die Rückseite zu berühren.
»Sind sie eine Hexe?«
»Ein Mann mit einer mutigen Zunge sollte auf seine kühnen Worte ebensolche Taten folgen lassen.«
»Kommt mir wie etwas vor, das nur Hexen sagen würden.«
»Steh zu deinem losen Mundwerk, junger Mann, oder du wirst keinen angenehmen Heimweg haben.«
Seth wich zurück, wobei er die Frau genau im Auge behielt. »Ich geh dann mal besser. Und lassen Sie sich das Seil gut schmecken.«
Sie schnalzte mit der Zunge. »So eine Frechheit.« Ihre Stimme blieb beruhigend und sanft, aber jetzt schwang ein drohender Unterton darin mit. »Warum kommst du nicht herein und trinkst einen Tee mit mir?«
»Beim nächsten Mal.« Seth bewegte sich um den Schuppen herum, ohne den Blick von der zerlumpten Frau in der Tür abzuwenden. Sie machte keine Anstalten, ihm zu folgen. Bevor er aus ihrer Sichtweite verschwand, hob die Frau eine knorrige Hand; Zeige- und Mittelfinger hatte sie gekreuzt und die anderen seltsam gespreizt. Ihre Augen
waren halb geschlossen, und Seth hatte den Eindruck, dass sie etwas murmelte. Dann war sie nicht mehr zu sehen.
Seth kämpfte sich durch das wild wuchernde Unterholz zurück zu dem Pfad und blickte sich dabei immer wieder um. Die Frau verfolgte ihn nicht. Doch allein der Anblick des efeufarbenen Schuppens machte ihm eine Gänsehaut. Die alte Vettel sah so erbärmlich aus und roch so widerwärtig. Nie und nimmer würde er die Hand in ihre unheimliche Schachtel stecken. Nachdem sie ihn dazu herausgefordert hatte, konnte Seth nur noch an eine Sache denken, die er in der Schule gelernt hatte: dass Haifischzähne nach innen gebogen waren, damit Fische zwar hinein, aber nicht mehr heraus konnten. In seiner Fantasie war die selbstgemachte Schachtel voller Nägel oder Glasscherben, die wahrscheinlich einem ganz ähnlichen Zweck dienten.
Obwohl die Frau ihn nicht verfolgte,
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