Fabelheim: Roman (German Edition)
aussah wie ein Nadelkissen.
Obwohl er es nur äußerst ungern zugab, wünschte er, Kendra wäre mitgekommen. Sie hätte beim Anblick des Stachelschweins wahrscheinlich geschrien, und ihre
Angst hätte ihn umso mutiger gemacht. Er hätte sich über sie lustig machen können, statt sich selbst zu fürchten. Noch nie zuvor hatte er ein Stachelschwein in freier Wildbahn gesehen. Es überraschte ihn, wie schutzlos er sich beim Anblick all dieser spitzen Stacheln gefühlt hatte. Was war, wenn er im Unterholz auf einen trat?
Er sah sich um. Er hatte einen weiten Weg zurückgelegt. Natürlich würde es nicht schwierig sein, zurückzufinden. Er brauchte nur in entgegengesetzter Richtung den Pfad entlangzugehen und dann nach Westen abzubiegen. Aber wenn er jetzt nach Hause ging, würde er den Pfad vielleicht niemals wiederfinden.
Seth setzte seinen Weg fort. Auf einigen der Bäume wuchsen Moos und Farne. Um andere schlängelte sich Efeu. Der Pfad gabelte sich. Seth blickte auf seinen Kompass und stellte fest, dass ein Weg nach Nordwesten führte und der andere etwa in östliche Richtung. Getreu seiner anfänglichen Marschrichtung entschied er sich für die Abzweigung nach Osten.
Die Zwischenräume zwischen den Bäumen wurden größer und das Unterholz niedriger. Schon bald konnte er in alle Richtungen viel weiter sehen, und der Wald wurde ein wenig heller. Neben dem Pfad sah er am Rand seines Gesichtsfelds etwas Ungewöhnliches. Es sah aus wie ein großes, zwischen den Bäumen verstecktes, viereckiges Gebilde aus Efeu. Wenn man einen Wald erkundete, ging es schließlich darum, ungewöhnliche Dinge zu entdecken - also verließ er den Trampelpfad und ging auf das Efeuding zu.
Das dichte Unterholz reichte ihm bis zu den Schienbeinen und wickelte sich bei jedem Schritt um seine Knöchel. Während er sich dem ungewöhnlichen Ding näherte, wurde ihm klar, dass es sich um ein Gebäude handelte,
das vollkommen von Efeu überwuchert war. Es sah aus wie ein großer Schuppen.
Seth blieb stehen und schaute genauer hin. Der Efeu wuchs so üppig, dass er nicht erkennen konnte, woraus der Schuppen gemacht war. Er ging um den überwucherten Bau herum. Auf der gegenüberliegenden Seite stand eine Tür offen. Als er hineinspähte, hätte Seth beinahe laut aufgeschrien.
Es war tatsächlich ein Schuppen, der um einen großen Baumstumpf herum errichtet worden war. Neben dem Stumpf saß, in grobe Lumpen gekleidet, eine drahtige, alte Frau und nagte an einem Knoten in einem ausgefransten Seil. Runzlig vom Alter hielt sie das Seil in knochigen Händen mit knotigen Fingern. Ihr langes, weißes Haar war verfilzt und hatte eine ungesunde, gelbliche Färbung. Eins ihrer trüben Augen war stark mit Blut unterlaufen. Ihr fehlten etliche Zähne, und auf dem Knoten, an dem sie kaute, war Blut, das offensichtlich aus ihrem Mund stammte. Ihre bleichen, fast bis zu den Schultern nackten Arme waren dünn und faltig, mit bläulich schimmernden Adern und purpurn verschorften Flecken.
Als die Frau ihn sah, ließ sie das Seil sofort fallen und wischte sich rosafarbenen Speichel von den dünnen Lippen. Sie stützte sich an dem Baumstumpf ab und stand auf. Ihm fielen ihre langen, elfenbeinfarbenen Füße auf, die übersät waren von Insektenstichen. Ihre grauen Zehennägel schienen von Pilzen überwuchert zu sein.
»Sei mir gegrüßt, junger Herr. Was führt dich zu meinem Haus?« Ihre Stimme war – was wenig zu ihrer äußeren Erscheinung passte – melodisch und weich.
Einen Moment lang konnte Seth sie nur anstarren. Obwohl sie krumm und gebeugt war, war die Frau groß. Sie roch übel. »Sie wohnen hier?«, fragte er schließlich.
»Das tue ich. Hast du Lust, hereinzukommen?«
»Eher nicht. Ich mache nur einen Spaziergang.«
Die Frau kniff die Augen zusammen. »Ein eigenartiger Ort für einen jungen allein.«
»Ich erkunde gern die Gegend. Dieses Land gehört meinem Großvater.«
»Es gehört ihm, sagst du?«
»Weiß er, dass Sie hier sind?«, fragte Seth.
»Es kommt darauf an, wer er ist.«
»Stan Sørensen.«
Sie grinste. »Er weiß es.«
Das Seil, an dem sie gekaut hatte, lag auf dem Lehmboden. Außer dem Knoten, an dem sie genagt hatte, befand sich noch ein weiterer Knoten darin.
»Warum haben Sie auf dem Seil herumgekaut?«, fragte Seth.
Sie musterte ihn argwöhnisch. »Ich habe nicht viel übrig für Knoten.«
»Sind Sie eine Eremitin?«
»Das könnte man so sagen. Komm herein, und ich werde dir einen Tee machen.«
»Lieber
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