Fabelheim: Roman (German Edition)
führte ihn von dem Pool weg durch den Garten zu ein paar blühenden Büschen am Rand. Hinter den Pflanzen stand eine große Keksdose voller Milch, an der sich eine Schar Kolibris gütlich tat.
»Sie trinken Milch?«, fragte er.
»Ja, aber darum geht es nicht. Koste mal davon.«
»Warum?«
»Du wirst schon sehen.«
»Hast du sie probiert?«
»Ja.«
»Was ist so Tolles dabei?«
»Ich hab’s doch gesagt. Probier sie, und du wirst es schon sehen.«
Kendra beobachtete neugierig, wie er sich vor die Dose hinkniete. Die Kolibris zerstreuten sich. Seth tauchte einen Finger in die Milch und legte ihn auf die Zunge. »Ziemlich gut. Süß.«
»Süß?«
Er senkte den Kopf und schlürfte von der Milch. Dann richtete er sich wieder auf und wischte sich den Mund ab. »Ja, süß und sahnig. Aber ein bisschen warm.« Als er an Kendra vorbeiblickte, traten ihm schier die Augen aus den Höhlen, er sprang auf, schrie und fuchtelte wild mit den Armen. »Was zur Hölle sind denn das für Dinger?«
Kendra drehte sich um. Alles, was sie sah, waren ein Schmetterling und ein paar Kolibris. Sie blickte wieder in Seths Richtung. Er drehte sich im Kreis und sah sich, anscheinend erstaunt und verblüfft, im Garten um.
»Sie sind überall«, sagte er ergriffen.
»Was ist überall?«
»Sieh dich doch um. Die Feen.«
Kendra starrte ihren Bruder an. Konnte die Milch sein Gehirn total gegrillt haben? Oder nahm er sie auf den Arm? Er schien sich nicht zu verstellen. Er war zu einem Rosenbusch gegangen und betrachtete voller Staunen einen Schmetterling. Zaghaft streckte er die Hand danach aus, aber der Schmetterling flog davon.
Er drehte sich wieder zu Kendra um. »Kommt das von der Milch? Das ist viel cooler als der See!« Seine Aufregung schien echt zu sein.
Kendra beäugte die Dose mit Milch. Trink die Milch. Wenn Seth ihr einen Streich spielte, hatten sich seine schauspielerischen Fähigkeiten plötzlich um das Zehnfache verbessert. Sie tauchte einen Finger in die Milch
und steckte den Finger in den Mund. Seth hatte Recht. Sie war süß und warm. Einen Moment lang funkelte die Sonne in ihren Augen, und sie musste blinzeln.
Sie sah wieder ihren Bruder an, der sich an eine kleine Gruppe in der Luft schwebender Feen heranschlich. Drei hatten Flügel wie Schmetterlinge, eine wie eine Libelle. Bei der unmöglichen Szene, die sich ihr bot, konnte sie ein Kreischen nicht unterdrücken.
Kendra blickte wieder auf die Milch hinunter. Eine Fee mit Kolibriflügeln trank aus ihrer gewölbten Hand. Abgesehen von den Flügeln sah die Fee aus wie eine schlanke Frau, die keine fünf Zentimeter groß war. Sie trug ein glitzerndes, türkisfarbenes Kleid und hatte langes, dunkles Haar. Als Kendra sich zu ihr hinunterbeugte, zischte die Fee davon. Sie konnte das doch unmöglich wirklich sehen, oder? Es musste eine Erklärung geben. Aber die Feen waren überall, nah und fern, und sie schimmerten in leuchtenden Farben. Wie konnte sie leugnen, was sie doch vor Augen hatte?
Während Kendra sich weiter im Garten umsah, verwandelte sich ihre erschrockene Ungläubigkeit in Staunen. Feen jeglicher Art huschten umher, erkundeten Blüten, schwebten in der Brise und wichen ihrem Bruder geradezu akrobatisch aus.
Kendra, die wie in Trance die Pfade des Gartens durchstreifte, sah, dass die Feenfrauen alle Nationalitäten zu repräsentieren schienen. Einige sahen europäisch aus, andere indisch, wieder andere afrikanisch oder asiatisch. Einige hatten weniger Ähnlichkeit mit Menschenfrauen, denn sie hatten blaue Haut oder smaragdgrünes Haar. Manche hatten sogar Fühler. Flügel gab es in allen Variationen, meistens gemustert wie die von Schmetterlingen, aber eleganter geformt und leuchtend bunt. Alle Feen
glänzten hell und überstrahlten die Blumen im Garten, wie die Sonne den Mond überstrahlt.
Als sie um die Ecke eines Pfades bog, stand Opa Sørensen in Flanellhemd und Arbeitsstiefeln vor ihr, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Wir müssen reden«, sagte er.
Die Standuhr schlug – nach einem kleinen Vorspiel – drei Mal. Kendra, die in Opa Sørensens Arbeitszimmer auf einem Lederarmsessel mit hoher Rückenlehne saß, fragte sich, ob Standuhren ihren Namen daher hatten, dass sie immer so protzig in irgendwelchen Arbeitszimmern herumstanden.
Sie blickte zu Seth hinüber, dessen Sessel genauso aussah wie ihrer. Er war zu groß für einen so kleinen Jungen. Diese Sessel waren für Erwachsene.
Warum hatte Opa Sørensen den Raum verlassen? Waren
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