Fabelheim: Roman (German Edition)
nach ihrer Meinung fragen würde. Jetzt versuchte sie, ihre Gedanken zu sammeln. »Nun, ich gebe Seth Recht, dass du uns
nicht die ganze Wahrheit gesagt hast. Nie im Leben wäre ich in den Wald gegangen, wenn ich gewusst hätte, dass dort gefährliche Tiere sind.«
»Ich auch nicht«, sagte Seth.
»Ich habe zwei schlichte Regeln aufgestellt. Ihr habt sie verstanden, und ihr habt sie gebrochen. Nur weil ich es vorgezogen habe, euch nicht alle meine Gründe für diese Regeln wissen zu lassen, denkt ihr, dass ihr die Strafe nicht verdient habt?«
»Ja«, sagte Seth. »Nur dieses eine Mal.«
»Das klingt für mich nicht fair«, erwiderte Opa. »Wenn keine Strafen folgen, verlieren Regeln ihre ganze Macht.«
»Aber wir werden es nicht wieder tun«, wandte Seth ein. »Wir versprechen es. Sperr uns nicht zwei Wochen lang im Haus ein!«
»Gebt nicht mir die Schuld daran«, sagte Opa. »Ihr habt euch selbst eingesperrt, indem ihr die Regeln missachtet habt. Kendra, was wäre deiner Meinung nach fair?«
»Vielleicht könntest du uns eine verringerte Strafe als Warnung geben. Dann die volle Strafe, wenn wir es noch einmal vermasseln.«
»Eine verringerte Strafe«, überlegte Opa laut. »Also bezahlt ihr immer noch einen Preis für euren Ungehorsam, aber ihr bekommt nochmal eine Chance. Damit könnte ich vielleicht leben. Seth?«
»Besser als die ganze Strafe.«
»Dann wäre das also geregelt. Ich werde eure Strafe auf einen einzigen Tag herabsetzen. Ihr werdet morgen auf dem Dachboden bleiben. Ihr könnt zu den Mahlzeiten herunterkommen, und ihr dürft das Badezimmer benutzen, aber das ist alles. Wenn ihr noch einmal irgendeine von meinen Regeln brecht, werdet ihr den Dachboden
nicht mehr verlassen, bis eure Eltern euch holen kommen. Zu eurer eigenen Sicherheit. Haben wir uns verstanden?«
»Ja, Opa«, sagte Kendra.
Seth nickte.
KAPITEL 5
Das Tagebuch der Geheimnisse
I st dir eigentlich mal das Schlüsselloch am Bauch des Einhorns aufgefallen?«, fragte Seth. Er lag auf dem Boden neben dem ungewöhnlichen Schaukelpferd, die Hände hinterm Kopf verschränkt.
Kendra blickte von ihrem Bild auf. Sie hatte Lena gebeten, ihr ein Malen-nach-Zahlen-Bild zu machen, damit sie ihren Stubenarrest besser ertragen konnte. Kendra wollte die Pavillons rund um den See malen, und Lena hatte sie schnell und verblüffend genau skizziert, als würde sie den Ort kennen. Seth hatte keine neue Leinwand angefordert. Ob er nun auf dem Dachboden festsaß oder nicht, zum Malen hatte er keine Lust mehr.
»Ein Schlüsselloch?«
»Hast du nicht nach Schlüssellöchern gesucht?«
Kendra rutschte von ihrem Hocker und kauerte sich neben ihren Bruder. Und tatsächlich, auf der Unterseite des Einhorns befand sich ein winziges Schlüsselloch. Sie holte ihre Schlüssel aus dem Nachtschränkchen. Der dritte Schlüssel, den Opa Sørensen ihr gegeben hatte, passte. Eine kleine Luke schwang auf. Heraus fielen mehrere rosenförmige Pralinen in Goldfolie, genau wie die eine, die sie in dem Miniaturschrank im Puppenhaus entdeckt hatte.
»Was ist das?«, fragt Seth.
»Seife«, antwortete Kendra.
Kendra griff in die Luke und tastete das Innere des Schaukelpferdes
ab. Sie fand einige weitere Rosenknospenpralinen und einen winzigen, goldenen Schlüssel wie den aus dem Schrank. Der zweite Schlüssel zu dem abgeschlossenen Tagebuch!
»Sieht aus wie Süßigkeiten«, bemerkte Seth und grabschte sich eine von den zehn Pralinen.
»Iss ruhig eine. Sie sind parfümiert. Du wirst wunderbar riechen.«
Er wickelte eine Praline aus. »Eine komische Farbe für Seife. Riecht für mich stark nach Schokolade.« Er steckte sich das ganze Ding in den Mund. Seine Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Zum Henker, das schmeckt gut!«
»Da du das Schlüsselloch gefunden hast, wie wäre es, wenn wir sie fifty-fifty teilen würden.« Sie machte sich ein wenig Sorgen, dass er die Pralinen allesamt allein essen würde.
»Klingt fair«, sagte er und schnappte sich vier weitere Pralinen.
Kendra legte ihre fünf Rosenknospen in die Schublade ihres Nachtkästchens und nahm das verschlossene Buch heraus. Wie erwartet schloss der zweite goldene Schlüssel eine weitere Schließe auf. Wo konnte der dritte stecken?
Sie schlug sich an die Stirn. Die beiden ersten waren in Dingen versteckt gewesen, die man mit den anderen Schlüsseln hatte öffnen können. Der dritte Schlüssel musste sich in dem Schmuckkästchen befinden!
Nachdem sie das Schmuckkästchen geöffnet hatte,
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