Fabelheim: Roman (German Edition)
einen leblosen Körper am Sockel eines Baumstamms vorstellen.
»Seth Andrew Sørensen, gehorche deiner Großmutter! Ich will, dass du da herunterkommst.«
»Hör auf, mich abzulenken«, sagte er.
»Es mag bei diesen niedrigeren Baumstämmen noch recht lustig sein, aber je höher du kommst...«
»Ich klettere ständig auf irgendwelche hohen Sachen«, beharrte Seth. »Meine Freunde und ich klettern immer auf dem Tribünengerüst in der Highschool herum. Wenn
wir da abstürzen würden, wären wir auch tot.« Er stellte sich auf die Füße. Er schien immer besser zu werden. Seth landete auf dem nächsten Baumstamm und blieb einen Moment lang rittlings darauf sitzen, bevor er sich auf die Knie hochzog.
»Sei vorsichtig«, sagte Oma. »Denk nicht an die Höhe.«
»Ich weiß, du willst mir nur helfen«, erwiderte Seth. »Aber hör bitte auf zu reden.«
Oma stellte sich neben Kendra. »Kann er das schaffen?«, flüsterte sie.
»Er hat gute Chancen. Er ist ganz schön mutig und ziemlich sportlich. Die Höhe wird ihm vielleicht nichts ausmachen. Ich würde durchdrehen.«
Kendra wollte den Blick abwenden. Sie wollte ihn nicht fallen sehen. Aber sie konnte ihren Bruder nicht aus den Augen lassen, während er von Baumstamm zu Baumstamm hüpfte, immer höher und höher. Als er auf etwa dreizehn Meter Höhe angelangt war, neigte er sich gefährlich zu einer Seite. Ein kalter Schauder überlief Kendra, als wäre sie diejenige, die das Gleichgewicht verlor. Seth klammerte sich mit den Beinen fest und hatte im Nu die Balance wiedergefunden. Kendra konnte weiteratmen.
Vierzehn, fünfzehn, sechzehn. Kendra sah Oma an. Er schaffte es! Siebzehn. Seth stand auf, torkelte ein wenig und streckte die Arme zur Seite aus. »Die hohen wackeln ein bisschen«, rief er herunter.
Seth sprang auf den nächsten Baumstamm, kam schräg auf und neigte sich sehr weit zu einer Seite. Einen Moment lang sah es so aus, als würde er das Gleichgewicht verlieren. Jeder Muskel in Kendras Körper krampfte sich vor Entsetzen zusammen, dann stürzte Seth rudernd in den Abgrund. Kendra kreischte. Sie konnte den Blick nicht abwenden.
Etwas zuckte hinter der Felskante hervor – eine dünne, schwarze Kette mit einer Metallkugel am Ende. Die Kette wickelte sich um Seths Beine, und statt bis zum Boden zu fallen, prallte er klatschend gegen die Felswand.
Zum ersten Mal konnte Kendra Nero sehen. Der Troll hatte die Statur eines Mannes, aber reptilienartige Gesichtszüge. Sein schwarz glänzender Körper war mit leuchtend gelben Flecken gesprenkelt. Die Hand, in der er die Kette hielt, an der Seth baumelte, hatte Schwimmhäute. Als Nero Seth auf den Felsvorsprung hinaufzog, sah man deutlich seine mächtigen Muskeln. Dann waren die beiden außer Sicht, und kurz darauf wurde eine Strickleiter zu ihnen heruntergelassen.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«,rief Kendra zu Seth hinauf.
»Mir geht’s gut«, antwortete er. »Mir ist nur für einen Moment der Atem weggeblieben.«
Oma kletterte die Leiter hinauf, und Kendra folgte ihr. Sie kämpfte gegen den Impuls an, in die Tiefe zu schauen, und zwang sich, sich auf die nächste Sprosse zu konzentrieren. Endlich erreichte sie den Felsvorsprung. Sie machte sofort ein paar Schritte von der Kante weg; in der Felswand vor ihr klaffte der niedrige Eingang zu einer dunklen Höhle. Eine kühle Brise wehte ihnen ins Gesicht.
Aus der Nähe wirkte Nero noch furchterregender. Winzige, glatte Schuppen bedeckten seinen geschmeidigen Körper. Obwohl er nicht viel größer war als Oma, ließ sein muskulöser Körperbau ihn riesig erscheinen. Seine Nase sah eher aus wie eine Schnauze, und er hatte hervortretende Augen, die niemals blinzelten. Von der Mitte der Stirn verlief eine Reihe spitzer Stacheln über den Kopf bis hinab zur Taille.
»Danke, dass du Seth gerettet hast«, sagte Oma.
»Ich habe mir gesagt, wenn der Junge fünfzehn Baumstämme schafft, werde ich ihm helfen, falls er fällt. Ich gestehe, ich bin neugierig, zu hören, was dir der Aufenthaltsort deines Mannes wert ist.« Seine Stimme klang voll und melodisch.
»Erzähl uns, was dir vorschwebt«, sagte Oma.
Eine lange, graue Zunge zuckte aus seinem Mund und leckte über sein rechtes Auge. »Du willst, dass ich zuerst spreche? So sei es. Ich verlange nicht viel, eine unbedeutende Kleinigkeit für die Verwalterin dieses illustren Reservats. Sechs Truhen Gold, zwölf Fässer Silber, drei Schatullen mit ungeschliffenen Juwelen und einen Eimer Opale.«
Kendra sah
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