Fabelheim: Roman (German Edition)
Sie sah alt und verwittert aus, schien aber in einigermaßen gutem Zustand zu sein.
»Wir nähern uns unserem Ziel«, sagte Oma.
»Ist es hinter der Brücke?«, fragte Kendra nach.
»Unten in der Schlucht.« Oma blieb stehen und musterte
das Blätterwerk zu beiden Seiten des Weges. »Die Stille macht mich argwöhnisch. Heute liegt eine große Anspannung über Fabelheim.« Sie ging weiter.
»Wegen Opa?«, fragte Seth.
»Ja, und wegen deiner Feindschaft mit den Feen. Aber ich mache mir Sorgen, dass noch mehr dahinterstecken könnte. Ich kann es kaum erwarten, mit Nero zu sprechen.«
»Wird er uns helfen?«, fragte Kendra.
»Er würde uns wohl eher Schaden zufügen. Trolle können gewalttätig und unberechenbar sein. Ich würde keine Informationen von ihm erbitten, wenn unsere Situation nicht so ernst wäre.«
»Wie sieht dein Plan aus?«, fragte Seth.
»Unsere einzige Chance ist ein kluger Handel. Klippentrolle sind schlau und unbarmherzig, aber man kann sich ihre Raffgier zunutze machen.«
»Raffgier?«, fragte Seth.
»Ja. Klippentrolle sind geizige Kauze. Sie horten Schätze. Außerdem sind sie sehr schlau, was Verhandlungen betrifft. Sie genießen den Kitzel, einen Gegner zu bezwingen. Ganz gleich, zu welcher Übereinkunft wir gelangen, wir müssen Nero das Gefühl geben, dass er der unbestrittene Sieger bei der Sache ist. Ich hoffe nur, wir finden etwas, das er haben will und das wir entbehren können.«
»Und wenn wir nichts finden?«, fragte Kendra.
»Wir müssen etwas finden. Wenn wir nicht zu einer Übereinkunft gelangen, wird Nero uns nicht ungeschoren davonkommen lassen.«
Sie erreichten den Rand der Schlucht. Kendra legte eine Hand auf die Brücke und beugte sich vor, um hinabzuschauen. Es ging überraschend weit hinunter. Zaghafte Vegetation klammerte sich an die steilen Wände, und am
Grund der Schlucht plätscherte ein schmaler Fluss. »Wie kommen wir dort hinunter?«
»Mit Vorsicht«, sagte Oma und setzte sich auf die Felskante. Dann rollte sie sich auf den Bauch und begann mit den Füßen voran den Abstieg.
»Wenn wir stürzen, rollen wir ganz bis nach unten«, bemerkte Kendra.
»Ein guter Grund, nicht zu stürzen«, stimmte Oma ihr zu, während sie sich langsam vorwärtstastete. »Kommt, es sieht schlimmer aus, als es ist. Sucht euch einfach immer wieder festen Halt, einen Schritt nach dem anderen.«
Seth folgte Oma, und Kendra, die sich verzweifelt an den Rand der Schlucht klammerte, kam als Letzte. Zaghaft tastete sie nach einer Stelle, auf der ihr Fuß Halt fand. Aber Oma hatte Recht. Sobald sie sich in Bewegung gesetzt hatte, war der Abstieg weniger schwierig, als sie erwartet hatte. Es gab mehr zum Festhalten, als sie angenommen hatte, vor allem tief im Hang verwurzelte, knorrige Büsche, und nach dem zögerlichen Beginn wurde ihr Abstieg immer schneller.
Als Kendra unten angekommen war, hockte Seth neben lauter blühenden Blumen am Ufer des Flusses. Oma Sørensen stand in der Nähe. »Das hat ja ganz schön gedauert«, sagte Seth.
»Ich war nur vorsichtig.«
»Ich habe noch nie zuvor jemanden gesehen, der sich mit einer Geschwindigkeit von zwei bis drei Zentimetern pro Stunde vorwärtsbewegt hat.«
»Keine Zeit für Zankereien«, unterbrach Oma. »Kendra hat ihre Sache gut gemacht, Seth. Wir müssen uns beeilen.«
»Mir gefällt der Geruch dieser Blumen«, sagte Seth.
»Komm da weg«, beharrte Oma.
»Warum!? Sie riechen großartig, schnupper mal.«
»Diese Blumen sind gefährlich. Und wir haben es eilig.« Oma bedeutete ihm, ihr zu folgen, dann bahnte sie sich vorsichtig einen Weg über den steinigen Boden der Schlucht.
»Warum sind sie gefährlich?«, fragte Seth, nachdem er sie eingeholt hatte.
»Es handelt sich um eine besondere Art von Lotos. Ihr Geruch ist berauschend, der Geschmack göttlich. Ein winziger Bissen von einem einzigen Blütenblatt trägt dich davon in eine apathische Trance, die von lebhaften Halluzinationen begleitet wird.«
»Wie bei Drogen?«
»Sie machen noch schneller süchtig als die meisten Drogen. Wenn man von einer Lotosblüte kostet, erwacht ein Verlangen, das man niemals befriedigen kann. Viele haben ihr Leben damit vergeudet, nach den Blättern dieser Zauberblumen zu suchen und sie zu verzehren.«
»Ich wollte keins essen.«
»Nein? Wenn du ein paar Minuten sitzen bleibst und an ihnen riechst, hast du schon ein Blatt im Mund, bevor du überhaupt weißt, wie dir geschieht.«
Sie legten schweigend einige hundert Meter zurück. Die
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