Fabelheim: Roman (German Edition)
holte aus einer Truhe eine kunstvoll mit Blumenranken verzierte Schatulle. Darin befand sich eine kleine Armbrust, nicht viel größer als eine Pistole, und ein kurzer Pfeil mit schwarzen Federn, Elfenbeinschaft und einer Spitze aus Silber.
»Cool«, rief Seth. »Ich will auch so eine!«
»Wenn er die richtige Stelle trifft, tötet dieser Pfeil jedes Wesen, das einmal sterblich war, einschließlich der Verzauberten und Untoten.«
»Welche Stelle ist denn die richtige?«, fragte Kendra.
»Das Herz und das Gehirn sind am sichersten. Bei Hexen weiß man das nie ganz genau, aber dies ist der einzige Zauber, von dem ich sicher bin, dass er Muriel töten wird.«
»Du wirst sie töten?«, flüsterte Kendra.
»Nur als letzte Option. Zuerst werde ich versuchen, sie von Hugo fangen zu lassen. Aber das Risiko ist zu hoch, als dass wir ohne einen Notfallplan vorgehen könnten. Wenn der Golem unerwarteterweise versagen sollte, kann ich Muriel nicht allein bezwingen. Glaub mir, das Letzte, was ich will, ist ihr Blut an meinen Händen. Einen Sterblichen zu töten, ist kein gar so schweres Verbrechen wie das Töten eines magischen Wesens, aber es würde dennoch den Schutz annullieren, den mir der Vertrag gewährt. Ich würde mich wahrscheinlich selbst aus dem Reservat verbannen müssen.«
»Aber sie versucht, das ganze Reservat zu vernichten!«, warf Seth ein.
»Aber nicht, indem sie selbst jemanden tötet«, erwiderte Oma. »Die Kapelle ist neutraler Boden. Wenn ich dort hingehe und sie töte, werde ich nie wieder den Schutz des Vertrages genießen, selbst wenn ich die Tat rechtfertigen kann.«
»In der Nacht, in der die Kreaturen durch unser Fenster kamen, habe ich gehört, wie Dale eine Schrotflinte und andere Waffen abgefeuert hat«, wandte Kendra ein.
»Die Kreaturen sind auf unser Territorium vorgedrungen«, erklärte Oma. »Ungeachtet des Grundes verwirken sie, indem sie in dieses Haus kommen, all ihre Rechte. Unter diesen Umständen konnte Dale sie ohne Furcht vor Vergeltung töten, was bedeutet, dass sein Status unter dem Vertrag gesichert blieb. Dasselbe Prinzip würde gegen euch
zur Anwendung kommen, wenn ihr euch in verbotene Bereiche von Fabelheim wagen solltet. Wenn ihr euch auf diese Weise über den Vertrag hinwegsetzen würdet, wäre die Jagdsaison auf Kendra und Seth eröffnet – was auch genau der Grund ist, warum diese Gebiete verboten sind.«
»Ich kapiere nicht, wer dich bestrafen sollte, wenn du Muriel tötest«, sagte Seth.
»Die magischen Barrieren, die mich schützen, würden aufgehoben, und die Vergeltung würde auf dem Fuße folgen. Versteht ihr, als Sterbliche können wir die Regeln aus freiem Willen brechen. Die magischen Geschöpfe, die hier Asyl suchen, haben diesen Luxus nicht. Viele würden die Regeln brechen, wenn sie könnten, aber sie sind gebunden. Solange ich den Regeln gehorche, bin ich in Sicherheit. Aber sobald ich den Schutz des Vertrages verliere, bin ich verwundbar.«
»Bedeutet das also, dass Opa mit Sicherheit noch lebt?«, fragte Kendra mit angespannter Stimme. »Sie können ihn nicht töten oder so was?«
»Stan hat die Regeln, die für Blutvergießen gelten, nie gebrochen. Deshalb waren die dunklen Kreaturen dieses Reservates selbst in ihrer Festnacht nicht in der Lage, ihn zu töten. Ebenso wenig können sie ihn dazu zwingen, an einen Ort zu gehen, der es ihnen möglich machen würde, ihn zu töten. Eingekerkert, gefoltert, in den Wahnsinn getrieben, in Blei verwandelt – vielleicht. Aber er ist mit Sicherheit am Leben. Und ich muss ihn finden.«
»Und ich muss mit dir kommen«, erklärte Seth. »Du brauchst Verstärkung.«
»Hugo ist meine Verstärkung.«
Seth verzog das Gesicht und kämpfte mit den Tränen. »Ich will euch nicht verlieren, erst recht nicht, wenn es meine Schuld ist.«
Oma Sørensen umarmte Seth. »Mein lieber Seth, ich weiß deinen Mut zu schätzen, aber ich werde es nicht riskieren, ein Enkelkind zu verlieren.«
»Wären wir hier nicht in genauso großer Gefahr wie bei dir?«, fragte Kendra. »Wenn der Dämon befreit wird, sind wir alle geliefert.«
»Ich habe die Absicht, euch wegzuschicken, fort aus dem Reservat«, erwiderte Oma.
Kendra verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir warten also draußen vor dem Tor, bis unsere Eltern zurückkommen, erzählen ihnen, dass ihr von einem Dämon umgebracht wurdet, und bestehen darauf, dass wir nicht ins Haus gehen können, weil das hier in Wirklichkeit ein gefallenes magisches Reservat
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