Fabelheim: Roman (German Edition)
bis sie es als Hoffnung erkannte. Sie würde keine Kombinationsschlösser knacken müssen. Sie brauchte sich lediglich auf Gedeih und Verderb einem allmächtigen Wesen auszuliefern und um das Leben ihrer Familie zu flehen.
Was war das Schlimmste, das geschehen konnte? Der Tod, aber aus ihrem eigenen Entschluss heraus. Keine blutrünstigen Monster. Keine Hexen. Keine Dämonen. Nur ein großer Knall, und sie wäre eine Wolke Löwenzahnflaum.
Was war die beste Möglichkeit? Die Feenkönigin könnte
Muriel in Löwenzahnsamen verwandeln und ihre Familie retten.
Kendra bog auf den Pfad ein. Sie hatte Schmetterlinge im Bauch. Es war eine anstachelnde Art von Nervosität, dem Grauen eines sicheren Fehlschlags bei weitem vorzuziehen. Sie fing an zu rennen.
Diesmal kroch sie nicht unter der Hecke hindurch. Der Pfad führte zu einem Bogengang. Kendra lief hindurch und auf den gepflegten Rasen dahinter.
Im Mondlicht waren die weiß getünchten Pavillons und Wege noch malerischer als tagsüber. Kendra konnte sich jetzt tatsächlich vorstellen, dass auf der Insel in der Mitte des stillen Sees eine Feenkönigin lebte. Natürlich lebte sie nicht wirklich dort. Es war nur ein Schrein. Kendra würde ihre Bitte formulieren und darauf hoffen, dass die Königin antwortete.
Die erste Herausforderung war die Frage, wie sie auf die Insel gelangen sollte. Der See war voller Najaden, die gern Menschen ertränkten, was bedeutete, dass sie ein stabiles Boot brauchte.
Kendra eilte über den Rasen auf den nächsten Pavillon zu. Sie versuchte, die verhuschten Schatten zu ignorieren, die sie vor sich sah – verschiedenste Kreaturen, die alle vor ihr zurückwichen. Sie schob alle Furcht beiseite. Würde Opa sich umdrehen und fliehen? Würde Oma es tun? Oder Seth? Oder würden sie ihr Bestes geben, um sie zu retten?
Sie rannte zu dem Bohlenweg. Ihre Schritte hallten auf den Brettern wider und zerrissen die nächtliche Stille. Kendras Ziel, das Bootshaus, lag drei Pavillons entfernt.
Die Oberfläche des Sees war ein schwarzer Spiegel, der das Mondlicht reflektierte. Einige funkelnde Feen schwebten direkt über dem Wasser. Davon abgesehen deutete nichts auf irgendwelches Leben hin.
Kendra erreichte den dritten Pavillon, lief die Treppe hinunter und stand schließlich vor der Tür des Bootshauses. Sie war natürlich verschlossen. Die Tür war nicht groß, wirkte aber ziemlich stabil.
Kendra versetzte ihr einen heftigen Tritt. Der Schmerz des Aufpralls fuhr durch ihr ganzes Bein, und sie zuckte zusammen. Sie warf sich mit der Schulter gegen die Tür, und wieder fügte sie nur sich selbst Schaden zu, statt der Tür.
Sie macht einen Schritt zurück. Das Bootshaus war im Wesentlichen ein großer Schuppen, der auf dem Wasser schwamm. Es hatte keine Fenster. Sie hoffte, dass überhaupt ein Boot darin war. Wenn ja, dann würde es im Wasser schwimmen, umgeben von Wänden und einem Dach, aber nicht von einem Boden. Wenn sie in den See sprang, konnte sie in dem Bootshaus auftauchen und in das Boot klettern.
Sie beäugte das Wasser. Die schwarze, spiegelnde Oberfläche war undurchdringlich. Es konnten dort hundert Najaden lauern oder keine einzige – es war unmöglich zu erkennen.
Der ganze Plan war sinnlos, wenn sie ertrank, bevor sie die Insel erreichte. Nach dem, was sie von Lena gehört hatte, warteten die Najaden nur darauf, dass sie sich zu nah ans Wasser wagte. Wenn sie hineinsprang, konnte sie ebenso gut Selbstmord begehen.
Sie setzte sich hin und begann mit beiden Füßen gegen die Tür zu treten, die gleiche Methode, die Seth benutzt hatte, um in die Scheune einzubrechen. Sie machte eine Menge Lärm, aber die Tür rührte sich kein bisschen. Je heftiger sie dagegentrat, desto mehr schmerzten ihre Beine.
Sie brauchte ein Werkzeug. Oder einen Schlüssel. Oder Dynamit.
Kendra lief zurück zum Pavillon und suchte nach etwas, mit dem sie die Tür aufstemmen konnte. Sie fand nichts. Wenn doch nur irgendwo ein Vorschlaghammer herumliegen würde.
Sie versuchte, sich zu beruhigen. Sie musste nachdenken! Wenn sie sie weiter bearbeitete, würde die Tür irgendwann nachgeben. So etwas wie Erosion. Aber bisher hatte die Tür sich keinen Zentimeter bewegt, und sie hatte nicht die ganze Nacht Zeit. Es musste eine bessere Lösung geben. Aber ihr wollte einfach nichts einfallen. Nichts, das ihr geholfen hätte. Und sie war mutterseelenallein. Bis auf einige schattenhafte Kreaturen, die sich versteckten, sobald sie näher kam.
»Okay, hört mal
Weitere Kostenlose Bücher