Fabelheim: Roman (German Edition)
und im Stillen unsere Befreiung vorbereitet. Kein Gefängnis steht für immer. Manche unserer Bemühungen haben nur wenig Früchte getragen. Bei anderen Gelegenheiten haben wir mit einem einzigen Stoß viele Dominosteine zu Fall gebracht. Und als es Ephira in der Mittsommernacht gelang, euch dazu zu bringen, das Fenster zu öffnen, konnten wir hoffen, dass die Ereignisse sich ziemlich genau so entwickeln würden, wie sie es dann auch getan haben.«
»Ephira?«
»Du hast ihr in die Augen gesehen.«
Kendra zuckte innerlich zusammen. Sie wollte nicht
gern an die durchscheinende Frau in den gazeartigen, schwarzen Gewändern erinnert werden.
Muriel nickte. »Sie und andere werden dieses Reservat übernehmen, ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu unserem Ziel. Nach Jahrzehnten des Ausharrens kann mich jetzt nichts mehr aufhalten.«
»Warum lässt du meine Familie dann nicht einfach frei?«, flehte Kendra.
»Sie würden versuchen, sich einzumischen. Nicht dass sie das an dieser Stelle noch könnten – sie haben ihre Chance gehabt und sind gescheitert –, aber ich werde keine Risiken eingehen. Komm, stelle dich dem Ende an der Seite deiner Familie, und nicht allein in der Nacht.«
Kendra schüttelte den Kopf.
Muriel streckte ihren unverletzten Arm aus. Die von ihrem eigenen Blut roten Finger verkrümmten sich unnatürlich. Die Hexe sprach in einer seltsam verzerrten Sprache, die Kendra an das wütende Flüstern von Männern erinnerte. Kendra rannte aus der Kirche, die Stufen hinunter und hinüber zu der Rikscha. Dann blieb sie stehen, um sich noch einmal umzudrehen. Muriel war nicht zu sehen. Welchen Zauber die Hexe auch zu wirken versucht hatte, er hatte offensichtlich nicht funktioniert.
Kendra rannte die Schotterstraße hinunter. Es war noch immer ziemlich hell. Sie waren nur wenige Minuten in der Kirche gewesen. Tränen begannen ihre Sicht zu trüben, aber sie lief immer weiter in der Angst, dass sie doch verfolgt wurde.
Ihre ganze Familie war verloren! Alles war so schnell gegangen! Gerade noch hatte Oma ihr Zuversicht und Trost gegeben, und schon im nächsten waren Hugo vernichtet und Seth und Oma gefangen genommen worden. Kendra hätte ebenfalls gefangen genommen werden sollen,
nur dass sie seit ihrer Ankunft in Fabelheim so übervorsichtig gewesen war, dass sie anscheinend noch immer den vollen Schutz des Vertrages genoss. Die Kobolde hatten sie nicht berühren können, und Muriel war zu schwer verletzt gewesen, um sie zu verfolgen.
Kendra blickte zurück über die leere Schotterstraße. Die Hexe hatte ihre Verletzung mittlerweile sicher geheilt, würde ihr aber wahrscheinlich erst folgen, nachdem sie Bahumat befreit hatte, da Kendra bereits einen zu großen Vorsprung hatte.
Andererseits konnte Muriel wahrscheinlich Magie benutzen, um sie einzuholen. Aber Kendra vermutete, dass es Muriel wahrscheinlich ein weit wichtigeres Anliegen war, den Dämon zu befreien, als Kendra nachzujagen.
Sollte sie umkehren? Versuchen, ihre Familie zu retten? Aber wie? Kendra konnte sich nichts anderes vorstellen, als dass sie mit Sicherheit gefangen genommen werden würde, sollte sie tatsächlich zurückkehren.
Aber sie musste etwas tun! Sobald der Dämon frei war, war der Vertrag wertlos, und Seth würde sterben, zusammen mit Opa, Oma und Lena!
Sie sah nur eine einzige Möglichkeit: Sie musste ins Haus zurückkehren und versuchen, auf dem Dachboden eine Waffe zu finden. Konnte sie sich an die Kombination der Tresortür erinnern? Sie hatte vor einer Stunde zugesehen, wie Oma sie öffnete, hatte gehört, wie sie die Zahlen laut aussprach. Sie konnte sich nicht genau an die Kombination erinnern, hatte aber das Gefühl, dass ihre Erinnerung zurückkehren würde, sobald sie die Tresortür sah.
Kendra wusste, dass es keine Hoffnung mehr gab. Das Haus war viele Kilometer entfernt. Wie viele? Acht, zehn, vielleicht zwölf? Es war unwahrscheinlich, dass sie es bis dorthin schaffen, geschweige denn wieder zurückkehren
konnte, bevor Bahumat frei war. Es waren viele Knoten, und es hatte so ausgesehen, als könne Muriel immer nur einen nach dem anderen lösen. Jeder Knoten schien mehrere Minuten in Anspruch zu nehmen. Aber trotzdem, selbst bei diesem Tempo war es nur eine Frage von Stunden, nicht von Tagen, bis der Dämon frei war.
Aber sie konnte zumindest im Haus nach einer Waffe suchen. Ganz gleich, wie schlecht die Chancen standen, dieser Plan gab ihr zumindest eine Richtung vor, die sie einschlagen konnte, einen Grund,
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