Fabelheim: Roman (German Edition)
her!«, rief sie. »Ich weiß, dass ihr mich hören könnt. Ich muss in das Bootshaus. Eine Hexe will Bahumat freilassen, und ganz Fabelheim wird zerstört werden. Ich bitte niemanden, sich Bahumat in den Weg zu stellen. Ich brauche lediglich jemanden, der die Tür zum Bootshaus aufbricht. Mein Großvater ist der Verwalter hier, und ich gebe euch die Erlaubnis dazu. Ich werde mich umdrehen und die Augen schließen. Wenn ich die Tür brechen höre, werde ich zehn Sekunden warten, bevor ich die Augen wieder aufmache.«
Kendra drehte sich um und schloss die Augen. Sie hörte nichts. »Ihr könnt die Tür jetzt aufbrechen. Ich verspreche, ich werde nicht hinsehen.«
Sie hörte ein leises Platschen und ein Klimpern.
»Okay! Es klingt so, als hätten wir einen Kandidaten! Brich einfach die Tür auf.«
Sie hörte nichts. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sich etwas aus dem Wasser gestohlen haben und sie beobachten könnte. Außerstande, noch länger zu widerstehen, drehte sie sich um und riskierte einen Blick.
Es waren keine tropfenden Kreaturen in Sicht. Alles war still. Die Oberfläche des zuvor spiegelglatten Sees kräuselte sich ein wenig. Und auf dem Steg vor dem Bootshaus lag ein Schlüssel.
Kendra eilte die Treppe hinunter und hob den Schlüssel auf. Er war nass, verrostet und länger als ein gewöhnlicher Schlüssel. Er sah altmodisch aus.
Sie wischte ihn an ihrer Bluse ab, ging damit zum Bootshaus und schob ihn in das Schlüsselloch. Er passte. Sie drehte den Schlüssel, und die Tür schwang nach innen auf.
Kendra schauderte. Eine beunruhigende Schlussfolgerung drängte sich ihr auf. Anscheinend hatte eine Najade ihr den Schlüssel hingelegt. Sie wollten sie draußen auf dem Wasser haben.
Das Bootshaus war fast völlig dunkel, erhellt einzig von dem Licht, das durch die Tür fiel. Blinzelnd konnte Kendra drei Boote erkennen: Zwei große Ruderboote, von denen eins eine Spur breiter war als das andere, und ein kleines Tretboot. Kendra war einmal auf einem See in einem Park mit einem solchen Boot gefahren.
An einer Wand hingen mehrere Ruder von verschiedener Länge. In der Nähe der Tür befanden sich eine Kurbel und ein Hebel. Kendra versuchte, die Kurbel zu drehen, aber sie rührte sich nicht. Sie zog an dem Hebel. Nichts geschah. Sie versuchte es noch einmal mit der Kurbel, und diesmal ließ sie sich drehen. Eine Schiebetür am anderen Ende des Bootshauses öffnete sich und ließ mehr Licht ein. Kendra kurbelte weiter, erleichtert, dass sie direkt aus dem Bootshaus auf den See würde hinausfahren können.
Während sie in dem düsteren Bootshaus stand und durch die geöffnete Tür auf den See hinausblickte, kamen Kendra Zweifel. Ihr war schlecht vor Angst. War sie wirklich
bereit, in den Tod zu gehen? Sich von Najaden ertränken zu lassen oder einem Zauber zum Opfer zu fallen, der eine verbotene Insel schützt?
Opa und Oma Sørensen waren ziemlich gewieft. Vielleicht waren sie bereits entkommen. Machte sie das alles hier vielleicht ganz umsonst?
Kendra erinnerte sich an einen Tag vor drei Jahren im Freibad. Sie hatte sich verzweifelt gewünscht, ganz oben vom Sprungturm zu hüpfen. Ihre Mom hatte sie gewarnt, dass er höher sei, als er aussah, aber nichts hatte sie von ihrem Vorhaben abbringen können. Viele Kinder sprangen, etliche davon in ihrem Alter oder jünger.
Sie stand in einer Schlange am Fuß der Leiter. Als die Reihe an sie kam, machte sie sich auf den Weg nach oben und war erstaunt, wie viel höher sie mit jedem Schritt zu kommen schien. Oben angekommen hatte sie das Gefühl, auf einem Wolkenkratzer zu stehen. Sie wollte sich umdrehen, aber dann hätten alle Kinder in der Schlange gewusst, dass sie Angst hatte. Außerdem sahen ihre Eltern zu.
Sie ging über das Sprungbrett. Es wehte eine leichte Brise. Ob die Menschen auf dem Boden den Wind auch spüren konnten? Vom Ende des Brettes starrte sie auf das sich kräuselnde Wasser hinunter, bis auf den Grund des Pools. Hinunterspringen schien mit einem Mal gar kein so verlockendes Erlebnis mehr.
Dann wurde ihr klar, dass sie umso mehr Aufmerksamkeit erregen würde, je länger sie zögerte. Also hatte sie sich schnell umgedreht und war die Leiter hinuntergestiegen, unter strenger Vermeidung jeden Blickkontakts mit denen, die unten in der Schlange gewartet hatten. Seither war sie auf keinem Sprungturm mehr gewesen. In Wahrheit ging sie selten irgendwelche Risiken ein.
Wieder einmal stand sie vor etwas Furchterregendem. Aber diesmal war es
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