Fabelheim: Roman (German Edition)
anders. Diesmal würde wahrscheinlich ihre Familie sterben, wenn sie nicht handelte. Sie musste ungeachtet der Konsequenzen zu ihrer früheren Entscheidung stehen und ihren Plan ausführen.
Kendra betrachtete die Riemen. Sie hatte noch nie ein Boot gerudert und konnte sich leicht vorstellen, wie sie sich würde quälen müssen, vor allem, wenn böse Najaden ihr zusetzten. Sie begutachtete das Tretboot. Es war für einen Insassen bestimmt, aber breiter, als es dafür nötig gewesen wäre. Vermutlich, um dem Boot zusätzliche Stabilität zu verleihen. Es war nicht annähernd so groß wie die beiden Ruderboote, und sie wäre sehr nahe am Wasser, aber zumindest hatte Kendra das Gefühl, dass sie es manövrieren konnte.
Kendra seufzte. Sie kniete sich hin, band das kleine Boot los und warf die Leine auf den Sitz. Das Boot schaukelte, als sie einstieg, und sie musste in die Hocke gehen und sich mit den Händen abstützen, um nicht ins Wasser zu fallen.
Nachdem sie sich hinter das Lenkrad gesetzt hatte, schlug sie das Ruder scharf nach einer Seite ein und trat rückwärts in die Pedale. Langsam löste sich das Boot von dem kleinen Steg. Dann drehte Kendra das Steuer in die andere Richtung und fuhr vorwärts. Langsam glitt das Boot aus dem Bootsschuppen.
Es war nicht allzu weit bis zu der Insel, vielleicht achtzig Meter, und Kendra trat jetzt schneller. Sie kam ihrem Ziel immer näher, bis sie plötzlich merkte, dass sich das Boot wieder von der Insel wegbewegte.
Sie trat noch fester in die Pedale, aber das Boot fuhr weiter schräg nach hinten. Irgendetwas hatte sie in Schlepp genommen. Dann fing das Boot an sich zu drehen. Sie
konnte am Lenkrad drehen und treten, wie sie wollte, es nützte nichts. Jetzt neigte sich das Boot plötzlich gefährlich zur Seite. Irgendjemand versuchte es zum Kentern zu bringen!
Kendra lehnte sich in die andere Richtung, aber dann neigte das Boot sich sofort auf eben diese Seite. Rasch verlagerte Kendra ihr Gewicht wieder und versuchte verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten. Sie sah, wie nasse Finger ihr Boot an der Seite gepackt hielten, und schlug nach ihnen, was mit einem Kichern quittiert wurde.
Das Boot begann sich zu drehen. »Lasst mich in Ruhe!«, schrie Kendra. »Ich muss zu der Insel.« Die Antwort war ein langer Chor von Gekicher.
Kendra trat in die Pedale, so schnell und kräftig sie konnte, ohne etwas damit zu erreichen. Das Boot drehte sich weiter und wurde in die falsche Richtung geschleppt. Dann begannen die Najaden wieder, das Boot aufzuschaukeln. Dank des niedrigen Schwerpunktes des Bootes reichte es, wie Kendra nach einer Weile herausfand, sich zur richtigen Seite zu lehnen, um ein Kentern des Bootes zu verhindern, aber die Najaden waren erbarmungslos in ihren Bemühungen. Sie versuchten, sie abzulenken, indem sie von unten gegen den Bootsrumpf schlugen oder ihr zuwinkten. Das Boot neigte sich ein wenig, schaukelte und wurde herumgewirbelt, und dann machten die Najaden plötzlich wieder Ernst und versuchten erneut, es zu kentern. Sie hatten es darauf abgesehen, sie in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit zu überraschen. Doch jedes Mal reagierte Kendra sofort und verlagerte ihr Gewicht, und die Versuche, das Boot zum Kentern zu bringen, scheiterten. Bisher stand der Kampf unentschieden.
Die Najaden zeigten sich nicht. Kendra hörte sie lachen und sah ihre Hände, aber kein einziges Gesicht.
Dann beschloss sie, mit dem Treten aufzuhören. Es nützte ohnehin nichts, und sie verschwendete damit nur ihre Kraft. Sie wollte ihre ganze Aufmerksamkeit darauf richten, ein Kentern des Bootes zu verhindern.
Die Angriffe der Najaden ließen in ihrer Häufigkeit nach. Kendra sagte nichts, reagierte nicht auf das herausfordernde Kichern und ignorierte die Hände an den Seiten des Bootes. Sie verlagerte einfach nur ihr Gewicht, wie es gerade nötig war. Langsam bekam sie Übung darin, und das Boot geriet erst gar nicht mehr in allzu ernsthafte Schräglage.
Dann hörten die Versuche ganz auf. Nachdem etwa eine Minute lang nichts passiert war, begann Kendra wieder zu treten und Kurs auf die Insel zu nehmen. Doch kurz darauf wurde sie wieder belästigt. Sofort stellte sie das Treten ein, und die Najaden drehten das Boot wieder ein paar Mal im Kreis und schaukelten es hin und her.
Kendra wartete. Nach einer weiteren Minute der Ruhe paddelte sie wieder. Wieder zogen die Najaden sie zurück. Aber nicht mehr so eifrig wie am Anfang. Sie spürte, dass sie kurz davor waren, aufzugeben.
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