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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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holte tief Luft. »Dann ist es passiert.«
    »Was ist passiert?«
    »Ich war in der Küche und wollte das Abendessen herrichten, für Papa und mich.«
    Colin starrte sie an.
    Er wusste, wie seine Mutter hatte sein können. Er wusste, wie sich ihre Stimme anhörte, wenn sie Geschichten zum Besten gab. Ja, er wusste es noch immer, und er wusste auch, dass er es hatte vergessen müssen, um sein Leben leben zu können. Er ahnte, dass es nicht nur bei der Geschichte geblieben war, das war es nie.
    Livia stand auf und ging zum Fenster, stützte sich dort ab.
    Sie atmete tief ein.
    Dann fuhr sie fort: »Die Schmerzen waren auf einmal da, ohne Vorwarnung. Es fühlte sich an, als würde etwas meinen Unterleib zerreißen. Als wäre etwas in mir drin. Ja, etwas, das lebt. Sich mich nicht so an, du weißt genau, was deine Mutter tun konnte. Sie hat es auch mit deinem Bruder gemacht, du hast mir davon erzählt.« Sie stockte. »Colin, ich weiß, was Verdrängung ist. Ich habe es so oft versucht, aber ich hatte solche Angst.« Sie rieb sich die Augen, und Colin sah die Tränen darin schimmern. »Ich bin in der Küche zusammengebrochen, nicht einmal schreien konnte ich, so stark waren die Schmerzen. Etwas hat sich in mir bewegt, ich habe es ganz deutlich gespürt. Ich sah, wie sich der Schritt meiner Jeans dunkel färbte. Es war Blut, Colin. Unglaublich viel Blut. Ich lag auf dem Boden in der Küche, und es fühlte sich an, als wollte sich etwas mit scharfen Krallen aus meinem Körper befreien. Es war genau wie in dieser verdammten Geschichte, die mir deine Scheißmutter erzählt hat.« Sie hielt sich die Hände vors Gesicht, und es dauerte einige Augenblicke, bis sie weitersprechen konnte. »Das war keine gewöhnliche Monatsblutung, Colin. Es war das gottverdammte rote Meer. Ich dachte, ich müsste sterben. Das Blut floss wie Wasser über die Kacheln in der Küche. Ich saß mittendrin. Ich lag mittendrin. Und ich wusste, dass sie das gemacht hatte. Ich wusste nicht, wie sie es gemacht hatte, aber ich wusste, dass deine Mutter die Schuld an all dem trug.«
    Gürtel, Kamm und Apfel.
    Ja, Helen Darcy war dazu in der Lage gewesen.
    »Als mein Vater nach Hause kam, da lag ich zusammengekrümmt und bewusstlos auf dem Boden. Natürlich war da kein Blut zu sehen, rein gar nichts. Nicht für normale Menschen. Aber Papa hat es gesehen, weil ich es sehen konnte. Papa konnte solche Sachen sehen, weißt du?! Er war immerhin der Vater eines Friedhofsmädchens.«
    Das leuchtete Colin ein.
    »Deswegen bist du verschwunden.«
    Sie nickte. »Da war noch etwas.«
    »Was?«
    »Als ich auf dem Boden lag, da formte sich in der Blutlache ein Gesicht, und die Augen in diesem Gesicht sahen mich an, und der Mund in diesem Gesicht, das so tiefrot und fast schon schwarz war, sprach zu mir: Du wirst meinen Jungen verlassen, du kleine Friedhofsschlampe mit der schmutzigen Phantasie, du wirst ihn verlassen, denn sonst wird das, was du erntest, dir so wehtun, dass dir das, was du gerade erlebst, wie der Himmel auf Erden vorkommen wird. Ich wusste, dass ich mir das nicht einbildete. Jungs sind so, wie sie sind, sagte die Stimme, und ich kenne meinen Jungen viel besser, als du es je tun wirst. Sei auf der Hut. Ich schrie und trat mit den Füßen nach dem Gesicht.« Livia wurde ganz bleich, als sie die Erlebnisse von damals schilderte. »Es war das Gesicht deiner Mutter, Colin. Du weißt, dass sie so was tun kann. Du hast es selbst erlebt. Du hast mir von deinem Bruder erzählt, von dem Zimmer und all den anderen Dingen, die sie euch angetan hat.«
    Colin saß stocksteif da. »Ich ...«
    »Die ganze Nacht über saß ich nur zitternd in meinem Bett. Papa hat kein Wort aus mir herausgebracht. Als ich wieder zu mir kam, schrie ich mir die Seele aus dem Leib und heulte und stammelte lauter wirres Zeug.« Sie hielt kurz inne, »Dann habe ich Papa gesagt, dass ich von hier weg will. Er schickte mich zuerst nach Edinburgh zu seiner Schwester, und später ging ich nach Sizilien, wo die Familie herkommt.«
    Colin wusste nicht, was er sagen sollte.
    »Deine Mutter«, sagte Livia, »ist eine böse Frau.«
    »Ja, ich weiß.« Colins Stimme war nur ein Flüstern.
    »Das, was ich an jenem Abend erlebt habe«, sagte Livia, »war nichts anderes als eine Warnung gewesen. Ich hatte eine solche Angst, Colin. Ich musste gehen, sonst wäre noch viel Schlimmeres passiert.« Tränen traten ihr in die Augen. »Ich habe keine Ahnung, wer deine Mutter ist oder was sie ist, aber sie ist ein

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