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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Sie hatte Livia eine Geschichte erzählt.
    Genau genommen war es, jedenfalls hatte sie das Livia gegenüber behauptet, ein uraltes Märchen aus den Chevoit Hills, das von einem Mädchen handelte, das in einem Dorf namens Old Hawick am Rande der Hügel und der Wälder lebte und sich eines Nachts mit einem Jungen einließ.
    »Genau dieses Wort hat sie benutzt«, erinnerte sich Livia. »Einlassen.«
    Jenes Mädchen mochte den Jungen sehr, doch der Junge war sich nicht sicher, ob er sein ganzes Leben mit diesem Mädchen verbringen wollte. Und das Mädchen, das, so Helen Darcy, geschickt und heimtückisch war, wie die meisten Mädchen es sind, die einen Jungen mögen, der sich nicht sicher ist, was er tun soll; jenes Mädchen also, berichtete Helen Darcy, griff zu einer List, wie es Mädchen eben tun, wenn sie ihrem Herzen folgen und nicht dem Verstand. Als sie das nächste Mal mit dem Jungen allein war, da reichte sie ihm einen Tee aus frischen Kräutern, die sie nahe der Weiden von Jedburgh gepflückt hatte, einen Tee, der ihn gefügig und liebestoll machen sollte.
    » Gefügig machen und liebestoll «, sagte Livia, »genau das waren ihre Worte.«
    Colin Darcy hatte keine Mühe, sich das strenge Gesicht seiner Mutter vorzustellen.
    »Ich wusste gar nicht, was sie von mir wollte«, gestand Livia. »Sie war einfach so vorbeigekommen und wirkte weder freundlich noch unfreundlich und erzählte mir diese seltsame Geschichte.«
    Diese Geschichte von dem Mädchen aus Old Hawick, die eine richtige Lüge gewesen war und mit aller Macht zum Leben erweckt wurde. Colin ahnte es.
    »Sie war nichts als ein leichtes Mädchen.« So hatte Helen Darcy die Kleine aus dem Dorf am Waldrand und nahe der Hügel umschrieben und abfällig die Mundwinkel verzogen. Der Junge, der dumm war, wie es die meisten Jungen sind, wenn sie einem hübschen Mädchen begegnen, trank den Tee. Er schaute das Mädchen mit noch viel verliebteren Augen an, als er es ohnehin schon getan hatte. Dann küssten sie sich, und die Wollust ergriff Besitz von ihnen.
    »Sie hat Wollust gesagt«, erinnerte sich Livia, »und aus ihrem Mund klang es wie eine ansteckende Krankheit.«
    Das Mädchen und der Junge gaben sich also der Wollust hin. Doch der Junge meinte es nicht ehrlich mit dem Mädchen. Er dachte noch an andere Mädchen, die er kannte. Er dachte an diese Mädchen, selbst während er mit dem Mädchen schlief. Er stellte sich fremde Körper vor, ihre Bewegungen, ihre Gesichter, ihr Stöhnen.
    »Wie lange kennt ihr euch schon, Colin und du?« Helen Darcy hatte Livia an eben dieser Stelle ihrer Geschichte genau diese Frage gestellt.
    Und Livia, die jung und verunsichert war, hatte verdutzt geschwiegen.
    »Colin ist auch immer mit den Gedanken woanders«, sagte Helen Darcy und kehrte zu ihrem Märchen zurück.
    Das Mädchen aus Old Hawick ahnte nichts von alledem. Sie glaubte an die Liebe, eine Liebe, die alle Hindernisse zu überwinden vermochte. Sie glaubte an blühende Verse, wie Shakespeare sie einst zu Papier gebracht hatte, an Romantik, Küsse im Mondschein und Versprechen, die Ewigkeiten überdauern. Sie war dumm und wollte nicht sehen, dass der Junge allein ihren Körper betrachtete und unzüchtige Gedanken hatte. Sie ahnte nicht, dass der heiße Samen, der jetzt in ihrem Körper lebte, ein triefendes Wesen voll unlauterer Gefühle war und zu etwas heranwuchs, das ebenso hässlich war wie die niederen Instinkte des Jungen, den sie zu lieben glaubte.
    An dieser Stelle hatte Helen Darcy an ihrem Tee genippt und beiläufig bemerkt: »Colin ist noch zu jung, um sich zu binden. Glaub mir, ich kenne meinen Jungen. Er sieht die Mädchen auf der Straße an und denkt dabei nicht unbedingt an dich.« Sie hatte in die Hände geklatscht und gespielt gönnerhaft gelächelt. »Aber so sind die Jungs nun mal, Liviana, so sind sie. Sic sehen all die Körper, Schenkel, Brüste, Hintern ... Du weißt schon, was ich meine. Vergiss das besser nicht. Colin ist ein ganz gewöhnlicher junger Mann.«
    Livia war verwirrt gewesen.
    Am liebsten hätte sie diese grässliche Frau des Hauses verwiesen, doch dazu fehlte ihr der Mut. Sie war noch jung, und Helen Darcy hatte sie überrumpelt. Niemals hätte Livia gedacht, dass eine Erwachsene so mit ihr reden würde. Eine fremde Erwachsene, noch dazu die Mutter des Jungen, in den sie sich verliebt hatte.
    »Weißt du, wie das Märchen endet?« Helen Darcy hatte Livia sanft am Handgelenk angefasst, und noch heute erschauderte die inzwischen

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