Fabula
mit welcher hübschen Tschechin Danny Darcy nun schon wieder durch welche Kneipen gezogen und was-auch-immer angestellt hatte. Die spärlichen Telefonate waren allesamt kurz und knapp gewesen, und wenngleich Colin auch zu spüren geglaubt hatte, dass sein Bruder gern mit ihm redete, so war doch eine gewisse Distanz und Kälte zwischen den Worten greifbar gewesen, etwas, was sich Colin nicht hatte erklären können.
Zur Beerdigung ihres Vaters waren die beiden Söhne dann nach Portpatrick zurückgekehrt. Colin Darcy mit dem Zug aus Cambridge, Daniel Darcy mit dem Flugzeug aus Prag.
Sie waren zum Hafen gefahren und hatten an den Kais gesessen, dort, wo die Fischer ihren Tagesfang in Kisten stapelten, wo es nach Krabben, Makrelen und Schollen stank, ein Geruch, den sie noch von früher kannten und der sich in der Abendbrise mit dem Geruch nach Moder, Fäulnis und Schlick verband, den die Flut vor sich hertrieb, wenn die Ebbe klein beigab. Danny hatte geraucht, Colin nicht.
Sie hatten geredet, über unwichtige Dinge nur.
Später geschwiegen.
Und am nächsten Tag waren sie dann zum Galloway Graveyard gefahren, zur Beerdigung ihres Vaters.
Danach hatten sich ihre Wege endgültig getrennt.
Danny war von Prestwick aus nach Luton gellogen und zwei Tage später dann von Heathrow über Bangor nach New York, mit einem Greyhound weiter westwärts, wie die Helden in den Filmen, die sich die Brüder als Kinder angeschaut hatten (Filme mit Audie Murphy, Gregory Peck, Randolph Scott, Kirk Douglas, Ennest Borgnine, Dean Martin, James Stewart und - natürlich! - John Wayne).
Vor einem Jahr schließlich hatte Colin Darcy entdeckt, dass Danny eine CD aufgenommen hatte. Mit einer kleinen Band namens »Dylan's Dogs«, deren Leadsänger er war, hatte er Songs von Pete Seeger eingespielt. Eher zufällig war Colin auf das Album gestoßen, als er wahllos in einer Ecke des Virgin Megastores am Piccadilly Circus, wo sich die Independent-Titel befanden, nach Neuigkeiten gestöbert hatte. Dort wurde die CD als »Joshua Walkers Tipp des Tages« angepriesen (wobei Joshua Walker niemand Geringerer war als der zuständige Verkäufer in dieser abgelegenen Ecke des riesigen Virgin Megastores).
Colin Darcy hatte still vor dem Regal gestanden und das Cover der CD betrachtet, das Danny (in Jeans, Flanellhemd und mit Sonnenbrille, bärtig, die uralte Gitarre haltend) mit vier ländlich lässig posierenden Typen (alle in abgewetzten Jeans, Flanellhemden und mit ihren Instrumenten: Bass, Trompete, Akkordeon, Schlagzeug) und einer blonden Frau mit hübschen Augen und mit Geige (Soozie Sutcliffe) zeigte.
Er kaufte die CD und fuhr mit der U-Bahn zurück zum Regent's Park. Im Büro bedurfte es nur eines kurzen Besuchs bei google.com , um die Homepage der Band ausfindig zu machen und zu erfahren, dass Soozie Sutcliffe eigentlich Soozie Darcy war und gemeinsam mit ihrem Mann irgendwo im mittleren Westen in einem kleinen Haus auf dem Land lebte.
»Du hasst große Häuser also noch immer«, hatte Darcy dem Bildschirm zugeflüstert und nach einer Weile hinzugefügt: »Wie ich.«
Es gab ein Kontaktformular auf der Homepage.
Colin Darcy hatte an seinem Kaffee genippt und den Bildschirm ausgeschaltet. Er hatte keine Nachricht hinterlassen. Was hätte er auch schreiben sollen?
»Ich wünsch dir Glück, kleiner Bruder«, hatte er geflüstert.
Das war alles gewesen.
Er hatte nicht einmal Helen Darcy davon in Kenntnis gesetzt, dass ihr jüngster Sohn in Amerika geheiratet hatte.
Warum auch?
Er war zur Tagesordnung übergegangen, das konnte er gut. Sich mit Arbeit abzulenken war schon immer eine seiner Stärken gewesen. Er stürzte sich auf die Fallstudie, die er gerade schrieb, telefonierte mit Kollegen, sah sich die Forschungsergebnisse zum fünften Mal an diesem Nachmittag an, trank Unmengen von Kaffee und schaute viel zu oft und viel zu nachdenklich aus seinem Fenster hinaus auf den Regent's Park, wo sich die Wipfel der Pappeln sanft im Wind wiegten.
Seit sieben Jahren arbeitete er nun in dem riesigen, altehrwürdigen Gebäude, das die London Business School beherbergte. Sein Büro befand sich im ersten Stock des Sainsbury Buildings am Sussex Place, direkt am Regent's Park.
Nach dem Studium war er, nach einem äußerst kurzen Intermezzo am Lehrstuhl seines ehemaligen Professors und Doktorvaters, nach London umgezogen und bekleidete seit jenem Zeitpunkt die Stelle eines Assistenzprofessors am neuen Lehrstuhl für »Dynamik und Makroökonomie« an der
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