Fabula
böser Mensch, das weiß ich, und wenn sie verschwunden ist, dann sollte das auch so bleiben.«
Colin stand auf und ging schweigend zu ihr. Er berührte ihre Schulter, ganz sachte. »Ich ahnte ja, dass etwas passiert war. Dein Vater war so wütend, als ich mich nach dir erkundigt habe. Warum hat er denn nichts gesagt?«
Livia steckte den Kopf aus dem Fenster, sodass ihr der Regen in die langen Haare fiel. »Er wusste nicht, was passiert war. Er ahnte bloß, dass es etwas mit dir zu tun haben musste.«
»Warum hast du dich nie gemeldet?«
Sie zuckte die Achseln, »Ich weiß es nicht. Du warst in Cambridge und dann in London, du hast dein Leben gelebt. Es war alles so verdammt lange her. Ich ...« Sie berührte seine Koteletten. »Die sind jetzt richtig buschig«, sagte sie und lächelte mit ihrer Stimme, wie sie es während des ganzen Gesprächs noch nicht getan hatte, »buschig und ein wenig grau.« Sie sah ihn eindringlich an. »Ich habe dich auf der Beerdigung gesehen.«
Da war es wieder: Tie ayellow ribbon.
»Du warst dort?«
Sie nickte. »Danny und du, ihr habt überall die gelben Bänder an die Äste der Bäume gebunden, das war schön. Und dann hat auch noch diese schreckliche Kapelle gespielt. Selbst das war schön. Nur eure Gesichter, die waren nicht schön. Ihr saht aus, als hätte er euch alleingelassen, allein mit ihr.«
»Das hat er auch.«
»Aber das Lied, Colin, das Lied war klasse.«
» Tie a yellow ribbon round the ole oak tree.«
Sie musste lachen, jetzt lauter. »Ja, es war sehr schräg. Aber schön.«
»Ja«, antwortete er nachdenklich, »das war es, irgendwie. Mutter hat es gehasst.« Er suchte nach den richtigen Worten. »Es war ... es war, was unser Vater sich gewünscht hatte. Meine Mutter war stinksauer wegen dieses Lieds und dieser Kapelle.« Colin rief sich die Bilder ins Gedächtnis zurück. »Dein Vater war damals dort, ihn habe ich gesehen.«
»Er ist noch immer für den Friedhof zuständig. Manche Dinge ändern sich eben nie.«
»Ja«, sagte Colin nur. »Und deine Mutter?«
»Was ist mit ihr?«
»Hat er dir jemals von ihr erzählt?«
»Er hat Andeutungen gemacht, wie früher.« Sie wirkte nachdenklich und zupfte an ihren Haaren. »Ich weiß, wie sich ihre Stimme anhört«, sagte sie, »aus meinen Träumen.« Sie lächelte versonnen. »Und früher, wenn ich auf dem Friedhof war, habe ich sie singen hören.«
»Das sind schöne Erinnerungen.«
»Ja, und ich habe meine Mutter nicht mal gekannt.«
»Besser solche Erinnerungen als andere.«
»Ich weiß.«
In der Ferne dröhnte das Signalhorn eines Kutters über die See.
Livia drehte sich zu Colin um.
Sie stand jetzt vor dem Fenster, und hinter ihr fiel ein leichter Regen auf die Welt.
»Livia«, sagte Colin schließlich, und mehr brachte er nicht heraus. Mit einem Mal fühlte er sich ganz genau wie damals, als sie unter dem Mistelzweig gestanden hatten.
»Manche Dinge ändern sich nie«, flüsterte sie. Und dann, als sei sie aus einem Jahre andauernden Schlaf erwacht, ging sie auf ihn zu, und Colin legte instinktiv die Arme um sie und drückte sie fest an sich und roch ihr Haar, in dem sich warmer Nieselregen verborgen hatte, und beide spürten, dass man nicht unbedingt einen Mistelzweig braucht, um sich ein Versprechen zu geben. »Ich geh mit dir sogar bis nach Ravenscraig«, flüsterte Livia, das Friedhofsmädchen von einst, in Colin Darcys Ohr, »so viel ist sicher.« Und während draußen an den Klippen die Nacht hereinbrach, standen die beiden vor dem Fenster und spürten den Mistelzweig von einst über ihren Köpfen, so griin und duftend, als sei er niemals fort gewesen.
viertes kapitel
in dem Miss Robinson ein Haus erklärt, ein Constable seine Fragen stellt und vieles komplizierter, dafür aber nichts einfacher wird
Manche Häuser sind durchaus lebendig, und man kann sie atmen hören, wenn man dem steinernen Wispern zuhört. Meist sind es große Häuser, die vor langer Zeit erbaut worden sind. Häuser, die Schicksale wie Jahrhunderte erblickt haben, mächtige Bauwerke mit schwarzen Dächern, hohen Türmen, verwinkelten Erkern und hohen Mauern, die, von wildem Efeu umrankt und von Moos befallen, nicht weniger als die Geheimnisse alter Tage behüten. Manche Häuser sind böse, andere nur eigenwillig. Alle jedoch atmen etwas wie Kälte aus. Man spürt es, wenn man sich den Häusern nähert. Es ist eine Kälte, die in den hallenden Treppenhäusern mit ihren Stufen und Geländern aus Stein schlummert und durch
Weitere Kostenlose Bücher