Facetten der Lust
mich denn noch?«, fragte Daniel und klang dabei fast zärtlich.
Christin sah ihn an und prägte sich jede Nuance seines Gesichtes ein. Seinen schlanken, athletischen Körper, seinen geschmackvollen und trotzdem legeren Kleidungsstil. Wie immer trug er ein Hemd und Jeans. Die obersten zwei Knöpfe des Hemdes standen offen und gaben den Blick auf seinen Hals frei. Er sah so unglaublich gut aus. Neben ihm musste sie wie ein Walross aussehen.
Christin ließ ihre Füße vom Sessel gleiten und setzte sich gerade hin. Wenn er gehen wollte, würde sie ihn nicht halten.
»Ich weiß es auch nicht«, sagte sie unterkühlt und war heilfroh, ihre Gefühle so unter Kontrolle zu haben. Sich die Blöße zu geben, vor ihm in Tränen auszubrechen, kam nicht in Frage. Ganz ruhig stand sie auf und verließ das Wohnzimmer.
»Du sagst mir sofort, was mit dir los ist! Seit Tagen läufst du wie ein Zombie durch die Firma.«
Christin sah ihre Chefin an und bekämpfte den Kloß in ihrem Hals. Tina war nicht nur ihre Chefin, sondern auch ihre beste Freundin. Niemand kannte sie besser.
»Los jetzt, sonst schicke ich dich nach Hause. Deine Laune ist nicht geschäftsförderlich.«
Alles, bloß das nicht. Die Einsamkeit des Hauses war in den Nächten schon kaum zu ertragen.
»Daniel und ich haben uns getrennt.«
Tina stand der Mund offen. Minutenlang brachte sie keinen Ton raus. Schwerfällig ließ sie sich gegen Christins Schreibtisch plumpsen und starrte sie fassungslos an.
»Ich dachte immer, euch passiert das nie. Hat Daniel eine Neue?«
Tinas Mann war vor einem Jahr mit einer jungen Göre durchgebrannt, die seine Tochter hätte sein können. Seitdem unterstellte sie jedem Mann eine Affäre.
»Nein!«, sagte Christin bestimmend. Zu 99,99 % war sie sich sicher.
»Wir haben uns einfach nichts mehr zu sagen. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Seit Monaten sehe ich ihn an und empfinde nichts. Ihm ging es genauso.«
»Und wann habt ihr euch getrennt?«
»Vor sechs Tagen ist er ausgezogen.«
»Und du sagst kein Wort? Ich glaub das nicht. Ich hätte dir doch geholfen. Mann, Christin, du und dein Starrsinn.«
»Es fühlt sich so unwirklich an. Er war sowieso kaum zu Hause. Eigentlich hat sich nicht viel geändert, außer, dass ich weniger Wäsche habe und das Bett nachts neben mir leer ist. Ich koche nicht mehr und es liegen keine Sachen rum. Warum vermisse ich ihn?«
»Weil er fünfzehn Jahre da war. Du musst dich an die neue Situation erst gewöhnen.«
Diese Antwort war typisch für Tina, die Pragmatikerin. Christin hatte eine andere Theorie.
In den letzten Tagen hatte sie oft ein Stechen im Herzen gespürt. Zum Beispiel, wenn sie ins Bad ging und der Duft seines Rasierwassers in den Gardinen hing.
Oder als sie vor vier Tagen im Keller war und dort seine Laufschuhe gefunden hatte. Ohne darüber nachzudenken, hatte Christin sie vom Schlamm befreit, Frischespray reingesprüht und sie in den Schrank gestellt. Es hatte sie beruhigt, das tun zu können. Auf diese Art war er nach wie vor bei ihr.
An diesem Abend hatte sie zum ersten Mal die Einsamkeit gespürt. Es war nichts Greifbares, nur ein Druck unterhalb des Brustbeines, der immer schlimmer wurde.
Und dann hatte sie im Wohnzimmer auf dem Sofa gesessen und vor sich hingemurmelt: »Ich liebe dich noch, Daniel. Warum habe ich nicht wenigstens versucht, dich zurückzuhalten? Warum habe ich dich wortlos gehen lassen und nicht gekämpft?«
»Du musst da nicht allein durch und dich abends heulend unter einer Decke verkriechen. Du warst auch für mich da. Mensch, wir sind vierzig. Das Leben fängt erst an.«
»Ich habe nicht eine einzige Träne vergossen«, flüsterte Christin. »Was sagt das über mich?«
»Dass du dich bereits vor Monaten emotional von ihm getrennt hast. Nun mach nicht so eine sauertöpfische Miene. Lass uns lieber am Wochenende um die Häuser ziehen und schauen, was der Markt zu bieten hat.«
Christin schüttelte den Kopf. Das war das Letzte, worauf sie Lust hatte. Vielleicht würde sie Daniel anrufen und um ein Gespräch bitten, falls er überhaupt mit ihr sprechen wollte.
In den vergangenen Tagen hatte sie wieder und wieder den Abend durchgespielt, an dem sie diese bescheuerte Entscheidung getroffen hatten.
Sie hatte ihm nicht einmal den Hauch einer Chance gelassen, mit ihr zu reden. Sein abfälliger Blick hatte sie zu sehr gekränkt. Sie wusste selbst, dass sie ein paar Pfund mehr auf den Rippen hatte, als vor fünfzehn Jahren. Nur an ihm schien
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