Fänger, gefangen: Roman
verschiedene Möglichkeiten erwägen und Entscheidungen treffen können, ohne dass das Gewicht der Entscheidung auf einem allein lastet. Wenn Mom austickt, übernimmt Dad. Wenn Dad ein Thema unter den Tisch kehren will, bringt Mom es immer wieder hervor. Es ist ein gutes System, das mir vorher nie so aufgefallen ist, wenn beide mich anschnauzen, weil ich Nick geärgert oder vergessen habe, Grandma einen Dankesbrief zu schreiben.
Was uns wieder zu der nicht unerheblichen Gefahr bringt, die durch einen abwesenden Elternteil entsteht. Nicht, dass ich auch nur irgendetwas an der einen perfekten Nacht meines Lebens ändern wollte – meine Nacht mit Meredith –, aber irgendjemand hat da nicht aufgepasst. Ich habe Mr Rilke nie kennengelernt. Aus Merediths Erzählungen über den Besuch zu Thanksgiving liebt er sie. Auch wenn er Mrs Rilke nicht treu sein konnte. Aber was, wenn das nicht ich gewesen wäre, sondern Leonard oder irgendein blöder Footballspieler, der Meredith nach der Halloween-Party mit nach Hause genommen und einfach nur ausgenutzt hätte? Mr Rilke hat es vermasselt. Er war nicht da, um Meredith oder ihre Mutter zu erinnern, dass Jugendliche nicht ohne Grund zu einer bestimmten Uhrzeit zu Hause sein müssen. Und dass hübsche Mädchen wie Meredith beschützt werden müssen.
Versteht mich nicht falsch. Ich will nicht den Moralapostel spielen und Sex vor der Ehe verdammen. Ich habe Meredith nicht ausgenutzt. Wir wollten es beide. Das ist der zentrale Punkt. Aber wenn ihr Vater wüsste, wie beschissen sie dran sein wird, wenn der Junge, den sie liebt, vor seinem siebzehnten Geburtstag stirbt, dann hätte er hier seinmüssen, um auf das Zeitlimit beim Ausgehen zu bestehen. Und er sollte verdammt noch mal hier sein, wenn ich gestorben bin und sie zusammenbricht.
Woher ich so sicher bin, dass sie zusammenbrechen wird? Ich meine, ich will niemandem was vormachen. Daniel Solstice Landon ist nicht der tollste Sechzehnjährige der Welt. Meine Haare sind zu lang und strähnig. Ich bin ein Gerippe. Ich kann nicht mehr rennen. Ich kriege Angst unter dunklen Brücken. Ich finde, mit Schilfrohr und einer Schwester wie Phoebe reden zu können, interessanter als Flaschendrehen oder Fußballspielen. Ich falle von Brücken, Herrgott noch mal!
Abgesehen davon, dass ich es liebe, wie Meredith das letzte Wort eines Absatzes in die Stille fallen lässt ... und wie sie mit ihren nackten Füßen über den Teppich reibt, wenn sie scharf nachdenkt ... und abgesehen davon, dass ich sicher bin, dass sie mich liebt, weil sie, obwohl sie weiß, was mein liebstes Weihnachtslied ist – das Kirchenlied
Brightest and Best of the Sons of the Morning
–, es nie im Leben jemandem verraten würde ... also abgesehen von alledem weiß ich, dass sie zusammenbrechen wird, wenn ich sterbe, weil unsere gemeinsame Nacht das erste Mal war. Es gibt für alles nur ein erstes Mal. Und wenn es mit sechzehn passiert und dann einer von beiden stirbt, ist das traumatisch. Für beide.
Heiligabend ruft Meredith an, aber sie will nicht mit mir sprechen. Mom kommt in die Küche, wo ich das Geschirr abtrockne, das Joe spült. Der Truthahnkadaver steht klaffend auf der Arbeitsplatte. Der Geruch von Zwiebeln und Gewürzen aus der übrig gebliebenen Füllung schafft traute Behaglichkeit.
Joe erzählt: »In meinem Erdkunde-Seminar über Kolonialismus sagt Professor Abelard, es geht einzig und allein um wirtschaftliche Interessen. Der würde dir gefallen, Daniel. Er benutzt Romane, um Geschichte zu lehren.«
Mom stupst Joe an, Ellbogen an Ellbogen. Er bricht ab, als hätten sie das so geplant. Verräterische Stille.
»Was?«, frage ich.
Nachdem Joe einmal nickt, spricht Mom. »Das war gerade Meredith am Telefon.« Sie sehen überallhin, nur nicht zueinander, was wiederum verräterisch ist.
»Warum hast du mich nicht gerufen?«, will ich wissen.
»Joe kann dich zu ihr rüberfahren. Ich mache das hier fertig.«
Er nimmt mir das Handtuch ab, trocknet sich die Hände und ist schon halb an der Tür, als er sich umdreht und es im eleganten Bogen Richtung Spüle wirft. Ich fange das Handtuch auf, bevor es auf den Boden fällt.
»Was, wenn ich nicht hinwill?«
Joe schnaubt. »Sei kein Idiot. Sie wartet auf dich.«
»Wie zum Teufel willst du das wissen? Was geht hier vor?«
Mom reibt sich die Augen und lacht. Es klingt gezwungen – mir macht sie nichts vor.
»Okay, okay. Ich fahre zu Meredith, aber ich kapier nicht, wieso sich alle in mein Leben einmischen
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