Fänger, gefangen: Roman
Ich kann mich nicht erinnern, in Mathe jemals eine bessere Note als Zwei Plus bekommen zu haben. Wie kann das sein, dass ich so nah rankomme, aber es nie schaffe, egal, wie sehr ich mich bemühe?
Ihr denkt wahrscheinlich, genau wie mein Dad, dass die Bionote ein Schwindel war. Bio und Chemie und so waren noch nie meine Favoriten. Das Abmessen und Aufschreiben dieser ganzen Details, der ständige Vergleich von Sachen, das sind alles Kinkerlitzchen ohne große Bedeutung. Tatsache ist jedoch, dass es für mich jetzt viel wichtiger ist, Biologie zu verstehen als Geschichte. Ich bin anders motiviert. Und Meredith paukt mit mir. Sie ist ein Ass in Naturwissenschaften.
Zwei Tage vor Weihnachten schickt Mom Nick in die Bücherei, um im Internet nach Flugpreisen für Mexiko zu sehen. Sollte wohl ein Geheimnis sein, aber sie reden allesamt laut im Wohnzimmer darüber, als sie denken, ich schlafe. Dad krallt sich das Handy, um seine Verlagsleute anzurufen, damit sie mehr Arbeit auftreiben. Er drängt mich zu philosophischen Auseinandersetzungen und zu Diskussionen über fast jede Schlagzeile in der Zeitung, damit ich mich auf zentrale Themen konzentriere, aber er ist mit diesen Ablenkungsmanövern nicht besser als ich. Was kümmert es mich, ob die amerikanische Botschaft in Nairobi wieder angegriffen wird? Ich werde da sowieso nie hinreisen.
Obwohl Holden nicht viel über seinen Vater sagt, hab ich sofort gemerkt, dass der in seinem Leben so was wie ein Schwarzes Loch ist, verglichen mit meinem Dad, der in meinem mittendrin ist. Holden sagt, er wolle seinen Vater nicht schimpfen hören, weil er schon wieder ein Internat geschmissen hat, aber es steckt mehr dahinter. Als ich die Szene mit seinem heimlichen Besuch bei Phoebe noch mal lese, höre ich panische Angst heraus, die nicht ins Bild passt. Du hast den Eindruck, sein Vater wär ein großer Unternehmer. HC redet nicht wirklichschlecht über ihn. Wie ich das sehe, haben Holden und Leonard und Meredith – also Jugendliche, deren Väter kaum da sind, weil sie zu wichtig und zu beschäftigt sind, um sich zu kümmern – ein viel größeres Problem, als man denkt.
Eltern sind von Anfang an neugierig, oder? Das kommt automatisch, per Definition. Sie wollen wissen, was ihre Kinder tun, essen, denken. Das mag ganz natürlich sein, aber zu viel Neugier ist nicht gesund. Vor allem, sobald ein Kind eigenständig ist. Das ist bei Jungen so mit sechzehn, siebzehn der Fall, bei Mädchen vielleicht ein bisschen später wegen dieser ganzen Beschützerei des schwachen Geschlechts und so. Wie bei diesen Studien mit Schimpansen auf Discovery Channel zu sehen, muss sich analog auch ein menschliches Kind von seinen Eltern lösen. Man sollte meinen, wenn Erwachsene schlau sind, dann sorgen sie dafür, dass einem in der Schule was Vernünftiges beigebracht wird – zum Beispiel, wie man Vorräte anlegt und kocht und eine Wohnung mietet –, statt dass man mathematische Formeln lernen muss oder wann die Mongolen die Weltherrschaft übernehmen wollten. Solches Wissen nützt einem rein gar nichts, seinen Weg in der Welt des neuen Milleniums zu finden.
Das Ziel aller Eltern, vom ersten Schritt übers Auf-den-Topf-Gehen bis hin zum Führerschein, ist doch, dass das Kind allein überleben kann. Bücher aus der Bücherei ausleihen zu können, ist nicht überlebenswichtig. Fußball spielen zu können, ist definitiv nicht überlebenswichtig.
Aber jetzt kommt das eigentliche Problem. Wenn es nur einen Elternteil gibt, kann er oder sie entweder alles zu eng sehen oder zu locker. Ohne den anderen gibt es kein Gegengewicht. Das schwere Ende der Waage rummst nach unten. Das Kind fuchtelt mit den Armen und geht unter. Sicher, man kann argumentieren, dass manche Kinder gut mit nur einem Elternteil zurechtkommen. Ja, und es gibt auch blinde Menschen, die eine Arbeit finden – aber manche müssen ihr Leben lang betreut werden. Nehmt meine Mutter. Wenn Dad nicht da wäre, damit sie mit beiden Beinen auf der Erde bleibt, in der Realität, dann würdenwir jetzt wahrscheinlich in irgendeinem gottverlassenen Bergdorf wohnen und Pilze essen. Und vielleicht Kaffeeblätter als Lendenschurz tragen. Aber sie meint es natürlich gut.
Versteht mich nicht falsch. Ich liebe meine Mutter. Aber sie ist in gewisser Weise unfähig. Sie liebt mich. Sie will nicht, dass ich Schmerzen habe. Sie könnte nie die schwere Entscheidung treffen zu amputieren. Aber Dad hat einen anderen Blickwinkel. Das bedeutet, dass sie gemeinsam
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