Fahrenheit 451
am 16. Oktober 1555, als sie in Oxford wegen Ketzerei bei lebendigem Leibe verbrannt wurden.«
Montag und Stoneman wandten sich wieder der Straße zu.
»Ich bin die reine Auskunftei«, bemerkte Beatty. »Ein Feuerwehrhauptmann muß das sein. Manchmal setze ich mich selbst in Erstaunen. Paß auf, Stoneman!«
Stoneman bremste.
»Verflucht!« sagte Beatty. »Du bist an der Straße vorbeigefahren, wo wir zur Wache abschwenken.«
»Wer ist da?«
»Wer wohl?« antwortete Montag und lehnte sich drinnen im Dunkeln gegen die Tür, als sie wieder geschlossen war.
Schließlich sagte seine Frau: »Dann mach doch Licht.«
»Ich will kein Licht.«
»Dann komm zu Bett.«
Er hörte, wie sie sich unwirsch auf die andere Seite legte; die Federung knarrte.
»Bist du betrunken?« wollte sie wissen.
Es war also die Hand, die alles angerichtet hatte. Er bemerkte, wie die eine Hand und dann die andere ihn des Rockes entledigten und diesen auf den Boden fallen ließen. Er hielt die Hose über einen Abgrund hinaus, und das Dunkel verschluckte sie. Seine Hände waren verseucht, und bald würden es auch seine Arme sein. Schon spürte er, wie das Gift die Handgelenke hinauf und in die Ellbogen und die Schultern kroch, um dann wie ein Funke vom einen Schulterblatt zum andern überzuspringen. Seine Hände waren von einem Heißhunger befallen. Auch seine Augen begannen Hunger zu verspüren, als müßten sie irgend etwas und alles verzehren.
»Was machst du denn eigentlich?« fragte seine Frau.
Er schwankte, mit dem Buch in der Hand, die kalter Schweiß bedeckte.
Eine Weile darauf sagte sie: »Steh doch nicht einfach mitten im Zimmer herum.«
Ein leises Stöhnen entrang sich ihm.
»Wie?« fragte sie.
Er gab weitere Laute von sich, stolperte zu seinem Bett und steckte das Buch mit Mühe unter das kalte Kissen, plumpste ins Bett, und seine Frau, verblüfft, rief etwas herüber. Er lag weit weg von ihr lauf der andern Seite des Zimmers, auf einer winterlichen Insel, durch eine Wasserwüste getrennt. Sie redete mit ihm die längste Zeit, wie ihm schien, redete über dies und das, und es waren nur Wörter, wie die Wörter, die er einst bei einem Freund im Kinderzimmer von einem zweijährigen Mädchen gehört, das Sprechversuche machte, Laute zu gefälligen Mustern verband, akustische Seifenblasen steigen ließ. Montag erwiderte nichts, und nach geraumer Weile, als er immer nur vor sich hin stöhnte, wurde er inne, wie sich drüben etwas regte und Mildred an sein Bett trat und stehenblieb und die Hand ausstreckte, um seine Wange zu betasten. Er wußte, die Hand, die sie zurückzog, war naß.
Spät in der Nacht sah er zu Mildred hinüber. Sie war noch wach. Eine leise Musik schwirrte in der Luft; sie hatte sich die Funkmuschel wieder ins Ohr geklemmt und hörte Leuten zu, die weit weg waren. Mit offenen Augen lag sie da und starrte zur unermeßlich dunklen Zimmerdecke empor.
Gab es nicht den alten Witz von der Frau, die so viel am Telefon sprach, daß ihr Mann in seiner Verzweiflung zur nächsten Straßenecke Lief und sie dort von einer Fernsprechzelle aus fragte, was es zum Abendessen gebe? Nun, warum kaufte er sich dann nicht einen Rundfunksender, um spät nachts mit seiner Frau zu sprechen, leise, laut, schreiend, gellend? Aber was wollte er ihr zuraunen, zuschreien? Was konnte er ihr eigentlich sagen?
Und plötzlich kam sie ihm so fremd vor, daß er nicht mehr wußte, ob er sie überhaupt kannte. Er befand sich im Hause eines andern, wie jener Betrunkene, der nach Hause kommt, sich in der Tür irrt, ein falsches Zimmer betritt, zu einer Unbekannten ins Bett steigt, am Morgen früh aufsteht und zur Arbeit geht, ohne daß die beiden etwas gemerkt hätten.
»Millie ...?« sagte er leise.
»Was?«
»Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich möchte bloß wissen ...«
»Nun?«
»Wann sind wir zusammengekommen? Und wo?«
»Zusammengekommen wozu?«
»Ich meine – ursprünglich.«
Er ahnte, daß sie im Dunkeln die Stirn runzelte, und erklärte: »Wann haben wir uns kennengelernt, wo war das?«
»Ja, das war doch ...«
Sie brach ab.
»Ich weiß es nicht mehr«, sagte sie.
Ihn fror. »Erinnerst du dich nicht?«
»Es ist schon so lange her.«
»Erst zehn Jahre, nicht mehr, erst zehn!«
»Reg dich nicht auf, ich will nachdenken.« Sie lachte auf, ein merkwürdiges Lachen die Tonleiter hinauf.
»Komisch, sich nicht zu erinnern, wann man seinen Mann oder seine Frau kennengelernt hat.«
Er rieb sich die Augen, die Stirn,
Weitere Kostenlose Bücher