Fahrenheit 451
den Nacken, langsam, bedächtig, drückte die Hände gegen die Augen, als wollte er dem Gedächtnis nachhelfen. Es war auf einmal wichtiger als alles andere, zu wissen, wie er Mildred kennengelernt hatte.
»Es ist ja einerlei.« Sie war aufgestanden, befand sich jetzt im Badezimmer. Er hörte das Wasser laufen und die Schluckgeräusche, die sie machte.
»Mag sein«, sagte er.
Er versuchte zu zählen, wie oft sie schluckte, und dachte an den Besuch der beiden Kerle mit den Zigaretten zwischen den Lippen und an die Schlange mit dem Elektronenauge, und er wollte ihr zurufen, wie viele hast du heute nacht genommen, von den Kapseln, wie viele wirst du später noch nehmen, ohne es zu wissen? Und so fort, stündlich, und wenn nicht heute nacht, dann vielleicht morgen nacht! Wo ich doch selber nicht schlafen kann heute nacht und morgen nacht und überhaupt für lange Zeit nicht mehr, jetzt, da diese Geschichte angefangen hat. Und er dachte daran, wie sie auf dem Bett gelegen hatte, und er entsann sich, daß er damals dachte, wenn sie stirbt, werde ich bestimmt nicht weinen. Es wäre ja nur der Tod einer Unbekannten, eines Gesichts von der Straße, einer Abbildung aus der Zeitung, und das war ihm plötzlich so unrecht vorgekommen, daß er zu weinen begann, nicht über die Tote, sondern beim Gedanken, über die Tote nicht weinen zu können, ein dummer, hohler Mann neben einer dummen, hohlen Frau, und die Schlange höhlte sie noch mehr aus.
Wie wird man bloß so hohl? fragte er sich. Wer holt es aus einem heraus? Und dann diese entsetzliche Blume letzthin, der Löwenzahn! Damit war doch alles gesagt gewesen, nicht? »Schade, Sie sind gar nicht verliebt!« Warum eigentlich nicht?
Nun, stand denn nicht eine Wand zwischen ihm und Mildred, wenn man es bedachte? Buchstäblich nicht nur eine Wand, sondern vorläufig deren drei! Und dazu noch teuer. Und diese Onkels, diese Tanten, die Vettern und Basen, die Nichten und Neffen, die in diesen drei Wänden lebten, das ganze schnatternde Pack von Affen, das nichts sagte, nichts, nichts, und es laut sagte, laut, laut. Er hatte sie von Anfang an ›die Verwandtschaft‹ getauft. »Wie geht es Onkel Ludwig heute?« – »Wem?« – »Und Tante Frieda?« Wenn er an Mildred dachte, dann dachte er gleichsam an ein kleines Mädchen, das in einen Wald ohne Bäume geraten war (wie traumhaft), oder eher an eines, das sich in einem Flachland verirrt hatte, wo einst Bäume gestanden hatten (man spürte noch ringsum eine Erinnerung an ihre Gestalt) und mitten im Wohnzimmer saß, in welchem die Wände ständig mit Mildred sprachen, ganz gleich, wann er hereinkam.
»Es muß etwas geschehen!«
»Ja, etwas muß geschehen! «
»Wozu stehen wir dann herum und reden?«
»Es gilt zu handeln! «
»Ich platze fast vor Wut!«
Wovon handelte das alles? Mildred vermochte es nicht zu sagen. Wer hatte eine Wut auf wen? Mildred wußte es nicht genau. Was sollte geschehen? Halt dich in der Nähe, sagte Mildred, und du wirst es erfahren.
Er hatte sich in der Nähe gehalten, um es zu erfahren.
Ein Donnergetöse entlud sich von den Wänden. Musik drang mit solcher Lautstärke auf ihn ein, daß es ihm fast die Knochen ausrenkte; er spürte seinen Unterkiefer wackeln und die Augen im Kopf. Die reine Gehirnerschütterung.
Als alles vorbei war, kam es ihm vor, als habe man ihn von einer hohen Klippe heruntergestoßen, als sei er auf einem Teufelsrad herumgewirbelt und in einen Wasserfall hinausgeschleudert worden, um in eine Leere hinabzustürzen und nie – ganz – auf Grund – zu stoßen – nie – nie – ganz – nein, nicht ganz – auf Grund – zu stoßen ... Und man stürzte so rasend, daß man auch an den Seiten nicht anstieß – nie – ganz – auf irgend etwas – stieß.
Das Getöse verklang. Die Musik erstarb.
»Das wär's gewesen«, sagte Mildred.
Und es war in der Tat bemerkenswert. Etwas war geschehen. Obwohl die Leute in den Wänden des Zimmers sich kaum von der Stelle gerührt hatten und eigentlich nichts erledigt worden war, hatte man den Eindruck, jemand habe eine Waschmaschine angestellt oder einen in ein gewaltiges Vakuum hineingesaugt. Man ertrank in Musik und Mißklang. Schweißbedeckt hatte er das Zimmer verlassen, einem Zusammenbruch nahe. Hinter ihm saß Mildred auf ihrem Stuhl, und die Stimmen setzten wieder ein.
»Jetzt wird alles wieder gut«, sagte eine der Tanten.
»Das ist noch nicht ganz 'raus«, widersprach ein Vetter. »Sei nur nicht ungehalten!«
»Wer ist
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