Fahrenheit 451
ebensogut in alten Schallplatten, alten Filmen und in alten Freunden, Sie finden es in der Natur und in Ihrem Innern. Bücher sind nicht die einzigen Behälter, in die wir Dinge einlagerten, die wir zu vergessen fürchteten. An sich haben sie gar nichts Überwirkliches. Ihre Zauberkraft beruht auf dem, was darin steht, in der Art, wie darin aus Fetzen des Weltalls ein Gewand für uns genäht wurde. Natürlich konnten Sie das nicht wissen, natürlich verstehen Sie auch jetzt noch nicht, was ich damit meine. Gefühlsmäßig aber haben Sie recht, und darauf kommt es an. Es sind drei Dinge, die uns abhanden gekommen sind.
Erstens: Wissen Sie, warum Bücher wie dieses hier so wichtig sind? Weil sie Rang haben. Und was heißt das, Rang? Für mich besteht er im Gefüge eines Buches. Dieses Buch hier hat Poren. Es hat ein Gesicht, man kann es unter die Lupe nehmen und Leben in unendlicher Fülle darin entdecken. Je mehr Poren, je mehr wahrheitsgemäß festgehaltene, lebendige Einzelzüge man auf den Quadratzoll beschriebenen Papiers hinkriegt, um so mehr gehört man zur ›Literatur‹. Das ist jedenfalls meine Auffassung. Bedeutsame Einzelzüge . Frische Beobachtungen. Die guten Schriftsteller rühren oft ans Leben. Die mittelmäßigen streifen es flüchtig. Die schlechten vergewaltigen es und überlassen es den Schmeißfliegen.
Sehen Sie nun ein, warum Bücher gehaßt und gefürchtet werden? Sie zeigen das Gesicht des Lebens mit all seinen Poren. Der Spießbürger will aber nur Wachsgesichter ohne Poren, ohne Haare, ohne Ausdruck. Wir leben in einer Zeit, wo die Blumen sich von Blumen nähren wollen, statt von gutem Regen und guter schwarzer Erde. Selbst ein Feuerwerk, so hübsch es ist, stammt aus der Chemie der Erde. Und da glauben wir von Blumen und Feuerwerk leben zu können, ohne auf die Wirklichkeit zurückzukommen. Kennen Sie die Sage von Herakles und Antäus, dem riesigen Ringkämpfer, dessen Kraft unerhört war, solange er mit beiden Füßen auf der Erde stand. Erst als er von Herakles in die Luft gehoben wurde, kam er, entwurzelt, ums Leben. Wenn an dieser Sage nicht etwas ist, das uns angeht, hier und heute, dann weiß ich überhaupt nichts. Das wäre also das erste, was uns nottut. Rang, dichtgefügte Aussage.«
»Und das zweite?«
»Muße.«
»Aber wir haben doch eine Menge Freizeit.«
»Freizeit, ja. Aber Zeit, um nachzudenken? Wenn man nicht mit hundertfünfzig Stundenkilometer dahinstiebt, wobei man an nichts als an die Lebensgefahr zu denken vermag, dann treibt man irgendeinen Sport oder sitzt in seinen vier Fernsehwänden, mit denen sich schlecht streiten läßt. Warum? Das Fernsehen ist ›Wirklichkeit‹, es drängt sich auf, es hat Ausmaß. Es bleut einem ein, was man zu denken hat. Es muß ja recht haben; es hat den Schein für sich. Es reißt einen so unaufhaltsam mit, wohin immer es will, daß man gar nicht dazu kommt, gegen den traurigen Unsinn aufzubegehren.«
»Nur die ›Familie‹ gilt als ›Welt‹.«
»Wie bitte?«
»Meine Frau behauptet, Bücher hätten keine Wirklichkeit.«
»Gott sei Dank, man kann sie zumachen, kann sagen ›wart einen Augenblick‹. Man gebietet unumschränkt über sie. Wer hingegen hat sich je vom Fernsehzimmer losreißen können, wenn er einmal in seine Umklammerung geraten ist? Es macht aus einem, was ihm beliebt. Es ist eine Umwelt, so wirklich wie die Welt selber. Sie wird und ist dann wahr. Bücher können verstandesmäßig widerlegt werden, aber bei all meinem Wissen und all meiner Zweifelsucht war ich noch nie imstande, einem hundertköpfigen Symphonieorchester gegenüber zu Wort zu kommen, noch dazu in Farben mit 3-D-Raumton, und alles das in diesen unwahrscheinlichen vier Wänden. Wie Sie sehen, besteht meine Stube nur aus vier Gipswänden. Und dann das da.« Er wies zwei kleine Gummistöpsel vor. »Für meine Ohren, wenn ich mit der U-Bahn fahre.«
»Zanders Zahnpasta; Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht«, bemerkte Montag, mit geschlossenen Augen. »Wie kommen wir da je wieder heraus? Könnten uns Bücher nicht von Nutzen sein?«
»Nur wenn das dritte Erfordernis gegeben wäre. Das erste war, wie gesagt, Rang der Aussage. Das zweite, Muße, sie innerlich zu verarbeiten. Und drittens: das Recht, nach dem zu handeln, was sich uns aus dem Zusammenwirken der ersten beiden Dinge ergibt. Und ich glaube kaum, daß ein Greis und ein abtrünniger Feuerwehrmann in diesem vorgerückten Zeitpunkt noch viel ausrichten werden ...«
»Ich kann Bücher
Weitere Kostenlose Bücher