Fahrenheit 451
sich. Er flüchtete aus einer Unwirklichkeit, die beängstigend war, in eine Wirklichkeit hinein, die etwas Unwirkliches hatte, weil sie neu war.
Schwarz glitt das Ufer vorüber; es verwandelte sich allmählich in eine Hügellandschaft. Zum erstenmal seit Jahren sah Montag über sich die Sterne hervorkommen. Er glaubte am Himmel ein mächtiges Gefährt aus Sternen heranrollen zu sehen, das ihn zu zermalmen drohte.
Als der Koffer sich füllte und versank, ließ Montag sich auf dem Rücken treiben; der Fluß war sanft und geruhsam und strebte weg von den Menschen, die von Schatten lebten am Morgen und von Dampf zu Mittag und von Dunst am Abend. Der Fluß war etwas Wirkliches; er hielt ihn behaglich umfangen und gab ihm endlich Zeit, die letzten Wochen zu bedenken, das zu Ende gehende Jahr und all die Jahre vorher. Er merkte, wie sein Herz sich beruhigte. Mit dem Blut wurden auch seine Gedanken bedächtiger.
Nun sah er den Mond tief am Himmel. Der Mond dort und der Mondschein, woher hatten sie ihr Licht? Von der Sonne natürlich. Und was gibt der Sonne ihr Licht? Ihr eigenes Feuer. Und die Sonne verbrennt immer weiter, Tag für Tag. Die Sonne und die Zeit. Die Sonne und die Zeit und das Verbrennen. Das Verbrennen. Sachte trieb er flußabwärts. Das Verbrennen. Die Sonne und jede Uhr auf Erden. Alles verschmolz ihm innerlich zu einem einzigen Ganzen. Nachdem er sich lange hatte treiben lassen auf dem Land und eine kurze Zeit auf dem Wasser, erkannte er, warum er zeit seines Lebens nie mehr brennen durfte.
Die Sonne verbrannte jeden Tag. Sie verbrannte die Zeit. Die Welt raste im Kreise herum und drehte sich um ihre Achse, und die Zeit war ohnehin fleißig daran, die Jahre und die Menschen zu verbrennen, ohne daß er dabei nachhalf. Wenn auch er noch Dinge verbrannte, und die Sonne verbrannte die Zeit, dann hieß das, daß alles verbrannte.
Irgendwo mußte es mit dem Verbrennen ein Ende haben. Die Sonne hörte bestimmt nicht damit auf. Also sah es ganz danach aus, als ob es an Montag sei und an den Leuten, mit denen er bis vor kurzem noch zusammengearbeitet hatte. Irgendwo mußte wieder ein Anfang gemacht werden mit Erhalten und Bewahren, und jemand mußte sich auf die eine oder andere Art damit befassen, mußte erhalten und bewahren, in Büchern, in Archiven, in den Köpfen der Leute, gleichgültig wie, solange nur Sicherheit bestand gegen Motten, Rost und Moder, und gegen Menschen mit Streichhölzern. Die Welt war voll Verbrennung aller Art. Nun galt es schleunigst die Zukunft der Asbestweber ins Leben zu rufen.
Er spürte, wie er mit dem Absatz anstieß, Geröll und Gestein streifte, über Sand schlurfte. Die Strömung hatte ihn gegen das Ufer gespült.
Wie eine gewaltige schwarze Kreatur ohne Augen lag das Land im Dunkeln da, gestaltlos, endlos, mit den Wäldern und Grashügeln, die seiner harrten.
Er zögerte, die Geborgenheit des dahinziehenden Wassers zu verlassen. An Land war mit dem Spürhund zu rechnen. Jederzeit konnten die Bäume aufrauschen unter einem mächtigen Gewühl von Hubschraubern.
Aber da war nur der gewöhnliche Herbstwind hoch droben, der wie ein zweiter Fluß dahinströmte. Warum war der Hund nicht unterwegs? Warum war die Fahndung landeinwärts abgeschwenkt? Montag horchte gespannt. Nichts. Nichts.
Millie, dachte er. All die Landschaft hier. Hör sich einer das an! Nichts und wieder nichts. Eine solche Stille, Millie, würdest du sie wohl ertragen? Würdest du sie nicht zu laut finden? Millie, Millie. Trübsal wandelte ihn an.
Millie war nicht hier und der Hund auch nicht, aber der herbe Geruch von Heu, aus der Ferne herbeigeweht, lockte ihn an Land. Er mußte an einen Bauernhof denken, den er in jungen Jahren einmal besucht hatte, wobei er entdeckte, daß hinter den sieben Schleiern der Unwirklichkeit, jenseits der Fernsehwände und des blechernen Grabens um die Stadt, irgendwo Kühe wiederkäuten und Schweine sich suhlten und Hunde auf einem Hügel weiße Schafe umbellten.
Jetzt versetzte ihn der herbe Heugeruch und das Schaukeln des Wassers in eine einsame Scheune, weit weg von den lauten Landstraßen, und er glaubte auf frischem Heu zu schlafen, hinter einem stillen Bauernhaus und unter einer alten Windmühle, die knarrend die Zeit vermahlte. Die ganze Nacht lag er auf dem Heuboden oben und horchte auf die fernen Geräusche, horchte, was an Tieren und Insekten und Bäumen sich draußen regte.
Im Laufe der Nacht, dachte er, höre ich drunten vielleicht etwas wie ein Schlurfen, das
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