Fahrt zur Hölle
Ganze durfte er ein weiteres Mal erzählen, als ihn ein freundlich auftretender Zivilist befragte. Sie hatten sich vor dem Regen in einen Steifenwagen zurückgezogen. Den Namen hatte Tsakalidis nicht verstanden, nur dass es sich um einen Oberkommissar handelte. Woher hätte er wissen sollen, dass inzwischen die Beamten der Kriminalpolizeistelle Rendsburg mit dem »ersten Angriff« begonnen hatten, während sie auf das K1 aus Kiel warteten?
***
Auch den Bewohnern des älteren Einfamilienhauses im Kieler Stadtteil Hassee war der erste Herbststurm des Jahres nicht verborgen geblieben.
»Hoffentlich hat es nicht wieder durchgeregnet«, sagte Margit und sprang zur Seite, als das Glas mit Kakao umkippte, der Inhalt sich über den Tisch ergoss und ihr trotz der artistischen Übung zum Großteil in den Schuh lief.
»Mensch, Sinje, pass doch auf!«, schimpfte sie.
»Jonas hat mich angestoßen«, erwiderte die Fünfjährige und holte zu einem Schlag aus, als ihr Bruder das bestritt.
»Doofe Ziege. Ich hab dich gar nicht berührt.«
»Doch.«
»Nein.«
»Doch.«
»Schluss jetzt!«, rief Margit dazwischen. »Jonas. Hast du deine Sachen für die Schule zusammen?«
»Ich weiß nicht, wo meine Turnsachen sind.«
»Wo hast du die gestern gelassen?«
»Weiß nicht.«
»Der weiß nie, wo seine Sachen sind«, mischte sich Sinje ein.
»Ohne Weiber wie dich wäre die Welt viel gemütlicher«, stellte Jonas fest.
»Und wer würde dir die Sachen hinterherräumen?«, erschallte von der Tür eine sonore Männerstimme.
Lüder Lüders stand im Türrahmen und sah auf die Familie, zumindest auf den anwesenden Teil. Jonas, sein Sohn aus erster Ehe, Sinje, die gemeinsame Tochter, und Margit, die er als »seine Frau« bezeichnete, obwohl sie noch keine Zeit zum Heiraten gefunden hatten.
»Wenn die Schicksen nicht da sein, ich mein … es sie nicht geben würde, wär das alles viel besser«, erklärte Jonas.
»Nimm dir Zeit beim Sprechen«, mahnte sein Vater. »Dein Deutsch ist katastrophal.«
»Brauch ich nicht«, sagte Jonas keck. »Ich mach sowieso was mit Computern.«
»Du und dein iPhone«, lästerte Sinje und sah ihren Vater an. »Ich will auch eins.«
»Sieh zu, dass du fertig wirst, damit Papi dich in die Kita mitnehmen kann«, mischte sich Margit ein.
»Das regnet«, erklärte Jonas. »Wir haben in der Schule über die Gleichberechtigung von Mann und Frau gesprochen. Da will ich auch gefahren werden.«
»Nimmst du mich auch mit?«, meldete sich hinter Lüders Rücken Viveka.
»Ich muss jetzt los. Wer nicht fertig ist, muss per Anhalter fahren«, sagte Lüder und sah sich um. »Wo ist Thorolf?«
»Keine Ahnung.« Viveka zuckte mit den Schultern und bekundete damit das Desinteresse an ihrem Bruder, den Margit ebenso wie sie mit in die Patchworkfamilie eingebracht hatte.
Plötzlich entstand in der kleinen Küche Gedränge, als die Kinder hinauseilten.
»Wer wischt das auf?«, rief Margit hinterher und sah resigniert auf die Flecken auf Tisch und Fußboden.
»Frauenarbeit«, ertönte irgendwo aus den Tiefen des Hauses Jonas' Stimme.
»Keine zwanzig Jahre mehr, dann sind die Kinder aus dem Haus«, tröstete Lüder Margit und nahm sie in den Arm.
»Das halte ich bis dahin nicht aus«, klagte sie gespielt theatralisch und schmiegte sich an ihn. Dann sah sie zu ihm auf, fuhr mit der gespreizten Hand durch seinen blonden Wuschelkopf und fragte: »Was hast du heute vor?«
»Nichts, Büroarbeit. Wie immer.«
Ein Seufzer der Erleichterung kam über ihre Lippen, bevor ihr Blick auf die Wanduhr fiel. »Beeil dich, damit die Rasselbande pünktlich zur Kita und in die Schule kommt.« Sie gab ihm zum Abschied einen Kuss. »Soll ich den Dachdecker bestellen? Das Loch«, rief sie ihm hinterher.
»Warte damit noch«, erwiderte er vom Hauseingang. »Es wird eng diesen Monat. Wir haben wieder viele Kosten gehabt.«
Auf dem Beifahrersitz des BMW hatte sich Viveka niedergelassen, Sinje war in den Kindersitz gekrabbelt, während Jonas am Steuer Platz genommen hatte.
»Wann darf ich mal fahren?«
»Wenn du den Führerschein gemacht hast«, erwiderte Lüder und zog seinen Sohn aus dem Fahrzeug.
»Sonst kommt die Polizei«, meldete sich Sinje zu Wort.
»Die richtige«, lästerte Jonas. »Nicht so eine Schreibtischpolizei wie Lüder.« Dann schien ihm etwas einzufallen. »Darf ich deine Knarre mal mit zur Schule nehmen? Ich mein, so ohne Munition und so. Das wäre richtig geil.«
Lüder antwortete nicht darauf. Zu oft hatte er
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