Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
antun könne; sie blickte ihn glasig an, dann schob sie sich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht und sagte, er solle sich nicht so anstellen, dieser Kuss sei doch nur eine Art erweiterter Tanzschritt gewesen.
Vom Tresen kam ein lautes, kreischendes Lachen, ein neuer Trupp machte eine Expedition in die Herrentoilette, jemand rief »weg da, du Penner«, eine verknotete Menge von Köpfen, Beinen und Armen drängte in die schon übervolle Kabine. Kurz darauf war ein würgendes Geräusch zu hören, dann Protestschreie und Gepolter, schließlich flog die Tür auf.
»So eine Unverschämtheit«, zischte einer. »Wer hat denn den Arsch hier mit reingenommen?«
Eine Frau stolperte hinter dem Pulk aus der Herrentoilette ins Freie. In der Kabine stank es; neben der Kloschüssel am Boden saß ein hilfloser, kalkbleicher Mensch mit schwarzumränderten Augen. Seine Frisur war vollkommen zerstört. Es war der Werbemann, der sich am Abflussrohr der Kloschüssel festhielt.
»Was ist denn jetzt passiert?«, fragte er und kicherte sinnlos. Seine Hände zitterten.
Jemand zeigte streng auf den Klodeckel, von dem eine gelbliche, übelriechende Flüssigkeit auf den Boden tropfte.
»Du hast Harris ins Koks gekotzt«, stellte eine Frau sachlich fest.
Einer der kahlrasierten Türsteher tauchte auf, und es gab einen Tumult; eine Faust krachte auf einen dünnen Knochen, Blut tropfte aus einer Nase, mehrere Leute wurden durch die Tür ins Freie geschoben. Ein dürrer Mann umklammerte mit der Faust einen kleinen Beutel und starrte hektisch hinter sich, wo der Türsteher wie ein Verkehrspolizist die Menge davon abzuhalten versuchte, hinter dem Dürren herzulaufen. Marie Bergsson hatte sich zum Ausgang gerettet; sie hatte Hunger und wollte ins White Trash, einen Burger essen.
Vor dem White Trash lehnte ein Mann an seinem Motorrad und redete auf eine Frau ein, die gerade aus einem Smart ausgestiegen war. Sie sei doch ein hübsches Ding, krähte er der Frau entgegen. Sie solle nicht mit so einer Kiste rumfahren, das sei kein Auto – sie könne vorn ein paar Scheren drunterschweißen und damit ihrem Papa den Rasen mähen, aber im Straßenverkehr habe so etwas nichts zu suchen. Drinnen saßen Marie Bergsson, Hüseyin, Theresa und Takashi, den sie auf der Straße getroffen hatten. Marie hatte Takashi in irgendeinem Club kennengelernt. Er verdiente sein Geld mit japanischen Tattoos. In Japan könne man mit Tattoos kein Geld machen, erzählte er und drehte sein Bierglas in der Hand; ganz früher einmal sei das Tattoo ein Teil von ukiyo-e , der Kultur der fließenden Welt, gewesen, also von allem, was Spaß macht, aber seit dem achtzehnten Jahrhundert sei das Tätowieren in Japan vor allem eine offizielle Bestrafung, die damals die früher übliche Amputation der Nase und der Ohren ersetzte. Der Kriminelle erhielt ein Tattoo um den Arm für jedes begangene Verbrechen oder ein tätowiertes Schriftzeichen auf die Stirn. Heute tätowierten sich in Tokio und Osaka nur die Gangster und ein paar anstrengende Sonderlinge; in Berlin sei das anders, man könne den Leuten alles überallhin tätowieren.
Takashi war Künstler, und die Leute, die sich von ihm tätowieren ließen, wurden unfreiwillig zum Teil eines Kunstwerks. Die meistenseiner Kunden hatten keine Ahnung davon, was die japanischen Zeichen bedeuteten, die Takashi ihnen auf den Hintern, entlang der Wirbelsäule oder auf ihre Oberarme tätowierte; wenn sie nach dem Sinn fragten, sagte er irgendetwas Diffuses über Mut und Eigensinn; in Wirklichkeit aber schrieb Takashi auf ihnen einen Brief. Von jedem Tattoo, das er stach, machte er ein Foto, notierte Namen und Adressen des Trägers und klebte die Aufnahmen in der richtigen Reihenfolge in ein Album. Bald lief, verteilt auf dreißig Berliner, folgende Botschaft durch die Stadt: Geliebte Yumiko (Ramona, Choriner Straße) – du bist die Schärfste, die es gibt (Karsten, Lottumstraße) – ich verwandle die Welt für dich in einen Roman (Jens, Schönhauser Allee)– und alle Menschen werden eine Geschichte für dich sein, die von der Schönheit deiner Augen, deines Mundes und deines Arschs handelt (Petra, Auguststraße) – und davon, dass ich dringend mit dir schlafen will (Ansgar, Kantstraße); und so weiter. Wenn der Brief beendet wäre, sagte Takashi, werde er die Bilder an Yumiko schicken, das Mädchen, in das er seit seiner Schulzeit verliebt war.
ImHintergrund ratterte irgendeine Psychobillyband aus den Lautsprechern. Ein paar echte
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