Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
eingeliefert worden; daer schlecht reden konnte, war nicht aus ihm herauszubekommen, was genau passiert war; Polizisten hatten ihn vor einem Club in Schöneberg gefunden und einen Onkel alarmiert, dessen Telefonnummer in Selçuks Handy gespeichert war (sie hatten es zuerst bei dem bulgarischen Kaufmann für Im- und Export versucht, der aber, als sich die Polizisten zu erkennen gaben, standhaft behauptete, er kenne keinen Selçuk, dies müsse eine Verwechslung sein).
Der Onkel saß, als Hüseyin und Marie über den quietschenden Linoleumboden des Korridors schlichen, bereits an Selçuks Bett; er trug eine gestrickte graue Mütze und schaute bekümmert aus dem Fenster. Als sie den Raum betraten, starrte er Marie wortlos an. Selçuk versuchte ihr zuzuzwinkern; vielleicht lächelte er auch.
In den kommenden Tagen wurde das Wetter schlechter. Wenn die Linienbusse durch die Pfützen fuhren, schwappte das Wasser auf den Gehweg, Sturmwolken ballten sich über Moabit, im Osten war der Himmel mittags schwarz, und der Regen trieb gegen die Scheiben.
Diana rief Hüseyin vom Flughafen aus an. Sie hätte nur zwei Stunden Zeit, dann müsse sie wieder einchecken. Er war vor ihr im Hotel; als sie ankam, hatte sie fettiges Haar, ihr Gesicht wirkte aufgedunsen und war stark gepudert. Sie trug einen Burberry-Mantel über dem Arm. Hüseyin starrte auf das karierte Innenfutter. Er wusste nicht, wo man solche Kleidungsstücke kaufen konnte; nicht einmal seine Tante Öslem, die in Ankara als Immobilienmaklerin arbeitete, hatte solche Sachen.
Diana zerrte einen überdimensionierten Koffer hinter sich her, in dem sie offenbar einen Großteil ihres Haushalts transportierte. Seit fast einem Jahr hatte sie keinen festen Wohnsitz mehr. Oben in ihrem Hotelzimmer küsste sie ihn hektisch und ging dann duschen. Auf dem Weg ins Bad stolperte sie; offenbar war sie immer noch benommen von dem Oxazepam, das sie im Flugzeug geschluckt hatte, um schlafen zu können. Hüseyin sank in das Queensize-Bett, blätterte in einem Magazin der Emirates Airlines, das in ihrer Handtasche steckte, und schaltete MTV an; ein Mann mit einer beknackten Dauerwelle sang, ersah wie ein abgelehnter Jesusdarsteller aus; seine Band hieß Nickelback.
Als Diana aus dem Bad kam, trug sie ihr feuchtes Haar offen; ein paar Tropfen liefen über ihre Schultern und versickerten in den Spitzenornamenten ihres BHs. Sie hatte einen blauen Fleck am Oberschenkel. Während sie neben Hüseyin im Bett lag, klingelte ihr Mobiltelefon neunmal und kündigte den Eingang von zwanzig SMS an. Jedes Mal zuckte sie zusammen oder verdrehte die Augen, fünfmal rief sie hektisch »Moment« und nahm das Gespräch an oder beantwortete eine SMS; er sah im Dunkel des Zimmers ihr Gesicht, das vom Display blau erleuchtet wurde, als befänden sie sich weit unterhalb der Wasseroberfläche.
Selçuk war gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden, als ihn die Polizei gegen zwei Uhr morgens aus dem Bett klingelte. Zwei Zivilbeamte standen mit strengen Gesichtern im Türrahmen und fragten, ob er sich zu dem seltsamen Loch äußern wolle.
»Welches Loch«, sagte er, so gut der Verband an seinem Kinn das zuließ.
Drei Finger deuteten zur Antwort vage in Richtung Straße. Ein paar Kreuzungen weiter, wo der EC-Automat gestanden hatte, sei ein Loch in der Wand, sagte einer der Beamten, ein paar Steine lägen daneben und ein abgerissenes Abschleppseil für Lkws, der Automat hingegen sei verschwunden. Ob er davon etwas mitbekommen habe? »Eindeutige Sache«, sagte Selçuk: »Das waren Rumänen.«
Weil Diana verreist war und Selçuk mit dem Kinnverband nicht aus dem Haus wollte, rief Hüseyin Marie Bergsson an, ob sie mit ihm ausgehen wolle. Sie saß mit Theresa in Schuppes Sport-Klause auf der Torstraße, wie immer, wenn es etwas Ernstes zu besprechen gab. Wer hierherkam, gehörte zu der anderen Welt, nicht zu dem Dorf südlich der Torstraße, in dem die Kommunikationsdesigner hausten. Die Torstraße war das Bukarest von Berlin, eine Aneinanderreihung von Plattenbauten und heruntergekommenen Häusern aller Art, der Osten imOsten, und mittendrin stand das Haus Nummer 140. Es gehörte der Erbin des Hemdenimperiums Van Laack, die den ehemaligen Verwaltungsbau zu einem Luxusapartmenthaus umgebaut hatte. An diesem Abend fand auf dem Deck eine Poolparty statt. Sie wanderten zu dritt durch die Eingangshalle, in der eine gebäudehohe Plastikpalme stand, und nahmen den Fahrstuhl zum Dach. Etwa fünfzig Menschen
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