Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
zeichne einen Kasten. Du zeichnest eine Linie hinein.«
Die Frau zögerte, dann zeichnete sie eine senkrechte Linie.
»Wir haben gerade einen sehr interessanten Test gemacht«, sagte der Neurologe und legte seinen Arm um die Frau. »Wo du deinen Stift angesetzt hast, liegt der goldene Schnitt, eine Naturkonstante. Das ist auch neurowissenschaftlich nachweisbar.«
»Dann können wir gar nichts selbst entscheiden?«, fragte die Frau mit dünner Stimme.
»Was uns wie eine Entscheidung vorkommt, ist eigentlich schon vorprogrammiert«, entgegnete der Neurologe und sah sie ernst an. »Aber wenn wir das Programm kennen, können wir es steuern und für unsere Zwecke nutzen.«
Ein junger Unternehmensberater schüttelte andächtig den Kopf. »Das ist wirklich faszinierend, oder«, sagte er zu seiner Sitznachbarin, »dass doch alles vorprogrammiert ist und wir nur das Programm knacken müssen.«
Birgit verbrachte viel Zeit auf dem Land. Die Fahrt zurück in die Stadt erschien ihr bald als Zumutung. Wenn sie mit dem Jeep, den Günter ihr geschenkt hatte, abends an einer roten Ampel in Kreuzberg stand, verriegelte sie die Türen. Einmal hatten ein paar Scheibenputzer ihr an der Ampel mit einem sandigen, verölten Lappen ein Herz auf die Seitenscheibe gemalt. Sie versuchte zu Hause, es mit heißem Wasser abzuwaschen; es verschwand nicht ganz.
Sie liebten den Ort, in dem sie am Wochenende wohnten. Sie fanden die bröckelnden Fassaden melancholisch schön und waren erbost, als die ostdeutschen Eigentümer von gegenüber beschlossen, ihr Haus neu zu verputzen und quittengelb streichen zu lassen.
Zum Geburtstag schenkte Günter Birgit eine Leica und ein Kopftuch von Hermès, auf das große goldene Ketten gedruckt waren. Er liebte seine Frau, er hatte, das sagte er seinen Freunden gern, »auch etwas von ihr gelernt«. Einen Abend pro Woche trainierte er tapfer in einem Fitnessstudio, das Holmes Place hieß, an den Geräten, obwohl er es hasste, dass er den kleinen Stift bei den Gewichten aus dem Loch mit der Siebzig, wo es die muskulösen Proleten am Tresengelassen hatten, immer in das Loch mit der Fünfundzwanzig stecken musste.
Manchmal kauften Günter und Birgit Kunst. Einmal hatten sie das Bild eines jungen Malers erstanden, der mit schwarzer Farbe Selbstporträts auf die Leinwand warf, die er mit obszönen Kritzeleien umrahmte. Der Galerist nannte ihn den neuen Jonathan Meese. Birgit mochte das Bild; sie fand es aufregend, war aber von der Begegnung mit dem Künstler enttäuscht. Sie trafen ihn auf einer Vernissage, es gab Kartoffelsalat und Rotwein. Der Künstler sah aus, als habe er eine Woche in einem feuchten Erdloch gesessen. Er machte unangenehm aufdringliche Bemerkungen über Birgits Kleid und ihre Beine und schwieg, als Günter ihm von seinen Assoziationen und Empfindungen angesichts des Bildes erzählte (»Ruhe, verstehen Sie, Ruhe und Energie«, sagte Günter).
Im Herbst machten sie mit Freunden Most (»wir mosten am Wochenende und freuen uns, wenn ihr mitmacht«, stand in ihren SMS, und es klang ein bisschen wie eine Drohung).
»So, jetzt wird der Most gemacht«, rief Günter dann, und Birgit erwachte aus ihrer Lethargie und führte einen albernen Tanz auf, stemmte die Arme in die Hüften und rief: »Jeder muss mitmachen! Jeder bekommt eine Aufgabe« – woraufhin die kleine Gemeinde sich daranmachte, die aufgetürmten Äpfel zu schälen.
Bergsson saß auf einem Schaukelstuhl im Garten. Jemand hatte den Motorrasenmäher angeworfen, und ein schwacher Benzindunst mischte sich mit dem Geruch von frisch gemähtem Gras. Auf der Wiese erklärte ein junger Mann mit Seitenscheitel dem Neurologen etwas; beide hatten ein Wasserglas in der Hand und sahen aus wie vorbildliche Kinder aus einem Werbefilm der fünfziger Jahre.
Hinter ihnen nagte das Pferd am Holz des Koppelzauns. In der Ferne ratterten Mähdrescher durch die trockenen Weizenfelder. Der Wind drehte, und sie hörten die Lkws auf der Autobahn, die an die polnische Grenze führte.
Bergsson ging mit Hüseyin zum See; sie schwammen nackt; das Wasser war modrig und warm.
Am anderen Ufer tauchte ein alter Mann hinter den Bäumen auf. »Bitte raus aus der Uferschwimmblattpflanzenzone«, schrie der Mann. »Hier können Sie nicht durch, hier ist Naturschutz!«
»Wir wollten nur kurz an Land gehen.«
»Raus aus der Uferschwimmblattpflanzenzone«, wiederholte der Mann und fuchtelte mit einem langen Stock. »Ich fordere Sie ein letztes Mal auf:
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