Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Hinterkopf bestätigt. Ihr Freund hatte denselben Tick. Als Marie ihn fragte, was er gerade unterrichte, sagte er »visuelle Kommunikation« und nickte ebenfalls zweimal.
Sie gingen.
Sie fuhren über die Friedrichstraße, deren Gebäude wie leere Aktenordner in der warmen Nachtluft standen, zu einer anderen Party. Eine Fotografin, die keiner kannte, lief zwischen den Gästen herum und fotografierte Männern mit einer Digitalkamera von oben in den Hemdkragen hinein, so dass ihre Bäuche zu sehen waren – ein Kunstprojekt, erläuterte sie und hängte sich an einen Haufen neuangekommener Leute. Hinter ihnen schob ein Mann mit wehenden Locken eine kompakte Frau mit einer blonden Turmfrisur durch den Raum, die laut quiekte; es war Frédéric Beigbeder, der französische Schriftsteller, der irgendwo auftreten sollte. Weiter hinten tauchte das Paar mit den wippenden Köpfen auf und sprach mit einem Mann, der ebenfalls in kurzen Abständen mit dem Kopf nickte; sie wirkten wie Außerirdische, die gerade eine neue Kommunikationsform entwickelt hatten. Jemand drehte die Musik lauter, die ersten Leute tanzten. Eine Gruppe hatte sich ins Badezimmer verzogen und zerkleinerte dort mit dem Foto einer jungen Frau, das am Badezimmerspiegel gesteckt hatte, auf dem heruntergeklappten Klodeckel einen Brocken Kokain. Das Fotopapier reagierte chemisch auf das Zeug; eine schwarze Blase fraß sich bis zu den Ohren der jungen Frau vor.
Hüseyins Mobiltelefon klingelte. Selçuk war am Telefon, er sagte, Mustafa sitze in U-Haft mit einem Haufen Libanesen, die ihm auf die Nerven gingen, und er erreiche Hisham nicht. Hüseyin solle sofort Hisham auftreiben und die Sache regeln. Vor der Badezimmertür gab es einen Knall, jemand schrie auf, dann rief ein rotköpfiger Mann, jemand habe das Foto seiner Freundin zerstört, ihr Gesicht sei entstellt, wer, bitte, tue so etwas …
Marie Bergsson klemmte sich eine Magnumflasche Roederer unter den Arm und zog Theresa hinaus, zum Auto.
Vor dem alten Ballhaus hatte sich eine Schlange gebildet; an der Wand neben der Toilette lehnte Marilyn Manson bleich in der Schlange und schaute sich nervös um, ob ihn jemand erkannte, aber die Menschen hielten ihn bloß für einen Verrückten, der wie Marilyn Manson aussehen wollte.
Aus dem Ballsaal stolperte ein etwa dreißigjähriger Mann; sein schwarzes Haar stand in verschiedene Richtungen ab. Er kratzte sich an den Armen und umarmte wahllos Menschen. Seine Frau kicherte und fiel der Länge nach hin. Der Mann half ihr auf und setzte sie auf einen Stuhl. »Das ist der schönste Moment in meinem Leben«, sagte er, dann drehte er sich um sich selbst und breitete die Arme aus. Ein Tross, der sich von den Toiletten auf die Tanzfläche wälzte, riss ihn um, jemand, der weniger getrunken hatte, stellte ihn wieder senkrecht hin. »Gib mir ein bisschen Geld«, sagte der Mann und küsste ihn aufs Ohr.
Marilyn Manson starrte verärgert auf eine johlende Figur, die mit einem vollen Wasserglas durch die Luft wirbelte und einen kalten Regen auf die Wartenden fallen ließ. »Dies ist der schönste Moment in meinem Leben«, wiederholte der Mann und wischte sich das Wasser vom Gesicht. Jemand brüllte ihn an, er solle sich schämen, wie er sich hier aufführe, jedes Wochenende zweihundert Euro für den Dealer und hundert für den Babysitter, kein Wunder, wenn sie pleite seien. Der Mann nickte einsichtig. Er und seine Frau waren in der Werbung tätig, und vor ein paar Jahren hatten sie als die Entdeckung in ihrer Branche gegolten. Jetzt hatten sie ein Kind zu Hause, um das sie sich kaum kümmerten, andere Leute galten als Entdeckung, und sieverbrachten ihre Nächte weiter in Bars und Clubs; er trank, und sie hatte Affären.
Der Mann zerrte an Maries Hand. »Wie wäre es«, flüsterte er verschwörerisch, »wenn wir jemanden anrufen, jetzt? Das wäre doch herrlich.«
Er zog einen kleinen Beutel aus seiner Manteltasche und kicherte. »Und das hab ich gefunden!«
Draußen zog ein Gewitter auf, über dem Fernsehturm wurde der Himmel plötzlich schwarz, der Dom verschwand in einer unscharfen grauen Masse, die kühlere Luft kündigte Regen an. Hüseyins Mobiltelefon klingelte; es war Diana, die aus Abu Dhabi anrief und weinte. Sie hatte einen Deal verpatzt und musste getröstet werden, der ostdeutsche Kulturmanager war offenbar außer sich. Der Werbemann tauchte aus der tanzenden Masse auf, er war kalkweiß im Gesicht und schrie auf seine Frau ein, wie sie ihm so etwas nur
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