Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
bewegen; am liebsten saß er da und aß etwas und schaute sich die Welt um sich herum an, aber wenn ihn etwas aufregte, konnteer sich mit einer tobenden, nicht zu bremsenden Wut auf die Ursache seines Grolls stürzen. An einem Abend während des Prager Frühlings, erinnert sich Radonovicz, hatte Thomyk im Fernseher, der im Aufenthaltsraum der LPG stand, die Berichte über die Proteste verfolgt, und am nächsten Morgen hatte er eine Brandrede vor den Arbeitern der LPG gehalten, in der es um Ehre und Solidarität und Freiheit ging. Er war ein guter Redner; es entstand eine mächtige Unruhe, und schon wenige Stunden später wurde er von der Polizei abgeholt und kam ein paar Tage nicht zurück. Als er wieder da war, war er noch wütender als vorher. Später erfuhr man, dass seine Schwester für die Stasi gearbeitet hatte; sie hatte ausgedehnte Berichte über ihn verfasst, in denen sie ihn als gefährlichen Choleriker darstellte. Man hatte ihn seitdem nicht aus den Augen gelassen, allerdings auch keine wirkliche Gefahr in seinen periodischen Wutausbrüchen erkennen können; für einen wirklich ernstzunehmenden Aufrührer, schloss einer der Berichte, sei er zu sentimental und zu gemütlich.
Thomyk war einmal verheiratet gewesen, aber seine Frau war, ohne es ihm vorher zu sagen, in den Westen abgehauen, zu einer Tante, die gerade aus einem Ashram zurückgekommen war und Kurse in Yoga gab. Seit 1987 lebte sie irgendwo in West-Berlin und hatte zwei Kinder mit einem Mann, der bei den Stadtwerken war und eine randlose Brille trug; eine gemeinsame Freundin hatte die beiden zufällig getroffen.
Nach der Maueröffnung hatte Thomyk sich immer wieder vorgenommen, sie zu besuchen; er hatte sogar schon Geschenke für ihre Kinder gekauft, aber bevor er den Plan in die Tat umsetzte, fuhr er jedes Mal erst in die Jägerstuben und trank so viel, dass er seine Reise bis auf weiteres verschieben musste.
1990 hatten Thomyk und Radonovicz mit den Kollegen Woitha und Böhrnagel aus der LPG einen Kredit beantragt, um den ehemals volkseigenen Schweinezuchtbetrieb in einen Bio-Bauernhof zu verwandeln; sie hatten den Kredit auch bekommen und wurden zusammen mit einem jungen westdeutschen Agrarwirt, einer blassen, frettchenhaftenGestalt mit exzellenten Zeugnissen, Vorsitzende ihrer eigenen Kooperative. Die Geschäfte liefen gut an im ersten Jahr, sie verdienten, anders als in den folgenden Jahren, sogar etwas Geld, und vor allem mit Thomyk verstand Radonovicz sich gut.
Thomyk war damals immer noch allein. Das einzige Lebewesen in seinem Haus war ein Hund, der ihm von irgendwoher zugelaufen und bei ihm geblieben war. Der Hund begleitete ihn jeden Abend in die Jägerstuben; er wartete geduldig, bis sein Besitzer gegessen und ein paar Biere getrunken hatte, und wenn Thomyk schließlich aus der Bar schwankte und sich in den Fahrersitz seines Ford Scorpio fallen ließ, trottete der Hund hinterher und sprang durch die Seitentür auf den Beifahrersitz, wo er, eine Pfote auf dem Armaturenbrett, in huldvoller Haltung die Straße betrachtete.
An jenem Abend war außer Thomyk und den Russen niemand mehr in den Jägerstuben, und weil Radonovicz keine Lust hatte, mit den Russen zu reden, zahlte er und fuhr nach Hause.
Draußen stand sein Mercedes. Es war so ein Wagen, wie er ihn als Kind bei seinen Nachbarn gesehen hatte; ein entfernter Verwandter der Nachbarn, der in Westfalen eine Apotheke besaß, war mehrfach damit nach Querfurt gekommen. Der Mann war ein Meister des Grenzschmuggels. In dem Hohlraum des Verdeckkastens seines Mercedes, der im Winter unter einem abnehmbaren Metall-Hardtop verborgen war, versteckte er Schallplatten und Bücher und andere Bestellungen. Keiner der DDR-Grenzbeamten wusste, dass man den Blechdeckel abnehmen konnte und im Verdeckkasten ausreichend Platz für Dutzende antikommunistischer Grundsatzschriften und die gesamten Top 50 der imperialistischen Musikindustrie war. Das Auto des Apothekers war am Grenzübergang Helmstedt mehrfach von oben bis unten untersucht worden, aber auf die Idee, das Dach abzuschrauben, war anscheinend niemand gekommen. Wenn der Apotheker den kleinen Vorort von Querfurt erreichte, wurde die Garage geöffnet, derMercedes hineingefahren und von vier vertrauenswürdigen Verwandten enthauptet – eine Prozedur, die im Familienjargon »Schlachtfest« genannt und besonders von den Kindern zu den hohen Feiertagen gerechnet wurde.
Jetzt hatte Radonovicz einen solchen Mercedes als
Weitere Kostenlose Bücher