Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
und kniff sie am Bauch. Sie versuchte, ihn unauffällig mit der Hand zurechtzurücken.
»Ist dir nicht wohl?«, fragte Herbert.
Der Flakon klemmte mittlerweile zwischen ihrem Bauchnabel und dem Rockbund, und als sie sich leicht vorbeugte, löste sich der Sprühkopf, und ein dunkler, intensiv duftender Fleck entstand auf ihrem Rock.
»Nimm noch einen Likör«, sagte Herbert und drückte ihr das Glas in die Hand.
Als sie eine halbe Stunde später das Altersheim verließ, war ihr schwindelig, und sie musste sich am Treppengeländer festhalten. Vor den Fenstern bogen sich ein paar Kiefern im Wind, die Stämme knackten wie sehr alte Knochen. Ein starker Duft stieg von ihrer Hüftgegend auf.
Im Garten der Heimanlage wanderten ein paar alte Frauen auf einem kreisförmigen Kiesweg. Sie ähnelten den alten Frauen aus den Einkaufszentren, nur dass sie keine Tüten bei sich trugen. Sie liefen immer im Kreis, wie Aufziehpuppen. Andere saßen hinter den Fenstern und starrten auf die Straße, vielleicht warteten sie auf Besuch. Einige hatten diese Hoffnung offenbar aufgegeben; ihre Fenster waren bis auf Brusthöhe mit Pflanzen verstellt.
Auf der Straße rettete sie den Flakon aus ihrer Bluse und bettete ihn in ihre Handtasche. Sie stellte fest, dass sie in diesem Zustand nicht mehr Auto fahren konnte, und wartete auf ein Taxi. Weil kein Taxi kam, ging sie in den Zoo. Sie tastete nach dem Flakon; er lag dort, tief unten in ihrer Handtasche. Sie ging zu den Löwen und den Giraffen, sie freute sich kindisch über ein Nilpferd, das sich in seinem Wasserbassin wälzte, kaufte sich ein Eis und besuchte dann die Affen. Sie schwankte ein wenig; ihr war schwindelig von der Parfümwolke, die mit ihr wanderte, von den Rumpralinen und dem Likör. Sie beobachtete die Menschenaffen. Der Gorilla vor ihr schien ihr zuzuzwinkern. Sie stellte fest, dass eine alte Frau (war sie nicht auch eine alte Frau? – sicher, ja, aber die da sah deutlich älter aus) am Gitter lehnte und auf den Gorilla einredete, offenbar erzählte sie einem Gorilla, was sie in der Woche erlebt hatte. Arme Sau, dachte Hannelore Petrowski, sie hat niemanden, mitdem sie reden kann, vielleicht hält sie den Gorilla auch für ihren Mann, die Leute werden wirr, wenn sie alt werden, der Verstand stirbt vor dem Rest – und während sie das dachte, sah sie, dass die Nase des Gorillas direkt vor ihr bebte. Er warf seine halb angebissene Selleriestange in die Ecke und legte den Kopf schräg. Er riecht das Parfüm, dachte Hannelore Petrowski und nahm eine vorteilhafte Pose ein, sie haben sehr feine Nasen und können Dinge auf Kilometer wittern, er muss Snob riechen.
In ihrem Kopf veranstalteten die Rumpralinen mit dem Likör jetzt eine Art Steilwandfahren, jedenfalls fühlte es sich so an. Der Gorilla schaute sie mit kleinen braunen Augen an. Dann sagte er: »Guten Abend.«
Hannelore Petrowski zuckte zusammen.
»Entschuldigung«, sagte der Gorilla mit einem bedauernden Unterton. »Sie müssen jetzt gehen. Wir schließen.«
Hannelore Petrowski wurde schlecht. Ihr war schwindelig. Der Gorilla …
Eine schwere Hand legte sich von hinten auf ihre Schulter. Sie drehte sich um – und sah einem Zoowärter ins Gesicht. Er wiederholte, dass sie jetzt leider gehen müsse. Sie nickte wortlos. Ein paar Meter entfernt schob ein anderer Wärter die alte Frau vom Käfig weg; sie winkte dem Affen und rief, er solle nicht traurig sein, sie komme wieder.
Hannelore Petrowski ließ sich in den Wagen fallen und holte tief Luft. Dann startete sie den Motor und fuhr nach Hause.
Ein halbes Jahr später hatte sie einen Bandscheibenvorfall.
Deswegen verkauften sie den Mercedes.
1994
Die Russen
Kilometerstand 172.115
Sein Haus liegt am Ortsrand, dort, wo es zum Eichberg geht, am Ende des Weges, in einer Sackgasse. Vor dem Haus gibt es einen Jägerzaun und einen weißen Briefkasten, dahinter eine Blautanne und, vor dem Waldrand, ein paar Hochsitze, die wie angefrorene Giraffen auf den Feldern stehen. Wenn man länger in die Dunkelheit starrt, tauchen, als blaue Schattenrisse, die Abraumhalden des Kupferschieferbergbaus auf, symmetrische Hügel mitten in der Landschaft, Berge ohne Bergromantik, ohne Geheimnis, ohne Gipfel, davor endlose braune Äcker, dahinter wieder Abraumhalden und Äcker und Dunkelheit und verwaiste Dörfer in der Ebene, die wirken, als hätten sie sich vor der Zeit versteckt. Kleine, in sich zusammensackende Häuser, die um einen geduckten Kirchturm
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