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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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hocken. Holzzäune. Der Kratzputz an den Fassaden hat die Farbe von kaltem, über Nacht ergrautem Milchkaffee. Dahinter die verknickten, dürren Kiefern, wie erschreckte Figuren im weiten Land. Weiter unten, aufleuchtend, das blaue Quadrat von Aral.
     
    Am Zaun vor dem Haus ein Schild: »Vorsicht Wachhund«. Hier wohnt er. Man baut Braunkohle ab in der Gegend und Kupfer. In den Kneipen gibt es ein dunkles, kräftiges Bier. Die Straßen haben freundliche Namen: »Straße der Völkerfreundschaft«, »Straße der deutsch-sowjetischen Freundschaft«. Es gibt auch die »Karl-Liebknecht-Straße«, die »Rosa-Luxemburg-Straße« und die »Egon-Erwin-Kisch-Straße« in der ehemaligen Siedlung Heimatscholle. Dort war es am schlimmsten gewesen.
    Der Gasthof Fortuna wirbt mit Schildern: »Zimmer frei«, »Kraftfahrerdusche«. Ein anderes Schild lädt in den »Sauna-Dom« von Kleinosterhausen ein. Am Ortseingang weist ein kleines Plakat auf die »Ü30 Single-Flirtparty« in Quetz hin. »Einlass 22 Uhr. Zur vollen Stunde Schluckialarm«.
    Das einzige Licht kommt von den Tankstellen, die man aus der Ferne leuchten sieht.
     
    Das Dorf, in dem Peter Radonovicz damals wohnte, lag gefangen im Talkessel, und es sah aus, als könne hier nichts anderes geschehen als die endlose Wiederkehr von stehender Sommerhitze, Herbststürmen und Schnee, gefolgt von langsam auftauenden, schwarz werdenden Äckern, sprießenden Ähren und Erntetagen, durchsoffenen Nächten in den Jägerstuben, Geburten, Hochzeiten, Scheidungen, Betriebsschließungen, Beerdigungen, Frontalzusammenstößen und wieder stehender Sommerhitze im Tal und den immer gleichen Fernsehsendungen.
    Es war dann aber doch viel passiert in diesem Jahr, in dem Radonovicz sich den Mercedes gekauft hatte. Sie hatten ihm den Betrieb geschlossen, es hatte einen Toten gegeben, und am Ende hatten die Russen die Dinge wieder ins Lot gebracht.
     
    Die Russen kamen im Januar 1994 zurück, ein paar Wochen nachdem Radonovicz sich den Mercedes gekauft hatte. Er kannte die beiden; sie hießen Andrej und Igor und waren Soldaten gewesen, als es die Kaserne oben am Wald noch gab, und als die Russen abzogen, waren sie mit ihnen verschwunden. Er hatte keine Ahnung, warum sie jetzt wieder auftauchten, aber so, wie sie aussahen, hatte es nichts Gutes zu bedeuten. Andrej fehlten zwei Zähne, und Igor war sehr blass und rauchte hektisch; die Asche bröselte ihm auf den Pelzkragen seiner Lederjacke.
     
    Tatsächlich war es den Russen, wie Radonovicz ein paar Monate später erfuhr, bei ihrer Rückkehr nach Moskau nicht gut ergangen. Igor hattesich ein paar Wochen lang um einen Job bemüht und sogar Bewerbungsbriefe geschrieben. Und während er auf die Antworten wartete, hatte er viel Zeit mit alten Freunden verbracht, die auch auf Antworten warteten, und um das Warten etwas angenehmer zu gestalten, hatten sie sehr viel getrunken, so dass er, als er von den Betreibern einer neuen Einkaufsmeile im Süden der Stadt zu einem Gespräch eingeladen wurde, den Termin verschlief. Man gab ihm einen neuen Termin am Nachmittag des darauffolgenden Mittwochs, und weil er wusste, dass das seine letzte Chance war, im krisengebeutelten Moskau der neunziger Jahre doch noch in das Leben eines rechtmäßig arbeitenden, fleißigen, früh aufstehenden Bürgers hineinzufinden, musste er dringend einen Schnaps gegen die Nervosität trinken.
    Er hatte sich von Andrej eine Krawatte und einen Anzug geliehen, der ihm einige Nummern zu groß war, und so hockte er nun in dem Stoffberg, der seine Zukunftschancen erhöhen sollte, an der Bar und fühlte sich so vom Leben unter Druck gesetzt, dass er dringend noch ein paar Wodka trinken musste.
    Bei seinem Bewerbungsgespräch fühlte er sich nicht wohl. Er sah die Frau von der Personalabteilung doppelt, und sie schwoll, je mehr er sie zu fixieren versuchte, zu enormer Breite an, so dass er während des Gesprächs fast durchgehend kichern musste. Die verdoppelte Person stellte ihm verwirrende, mit einem diffusen Echo verhallende Fragen, während zwei Lampen wie verrückt gewordene Planeten in schlingernden Bahnen um ihre beiden Köpfe kreisten.
    Igor versuchte, die Fragen einigermaßen deutlich zu beantworten, aber es gelang ihm nicht. Vor den Augen der Personalchefin versank der Mann in seinem zu großen Anzug zusehends, als habe man ihn aufgeblasen, aber ein Ventil nicht verschlossen, aus dem nun die Luft entwich; die Schulterpolster standen fast senkrecht neben seinen Ohren, so tief hing

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