Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
Vom Netzwerk:
er in seinem Stuhl. Als man ihm mit giftiger Freundlichkeit signalisierte, dass das Gespräch beendet sei, blieb er noch ein wenig sitzen und musste schließlich von zwei Mitarbeitern hinausgeleitet werden. Man machte sich nicht die Mühe, ihm schriftlich abzusagen.
     
    Andrej hatte es gar nicht erst versucht. Er hatte in den ersten drei Wochen in Moskau sein Geld, einen schönen Wintermantel, ein kostbares, mit Intarsien verziertes Klappmesser, zwei Zähne und auch seine Geduld verloren: Er hatte keine Lust, morgens um fünf bei minus zwanzig Grad irgendwelche Gleise zu reparieren oder einen Bus zu enteisen, deswegen hatte er sich kaum aus seiner Lieblingsbar herausbewegt und abgewartet, ob nicht irgendeine Form des Gelderwerbs zu ihm kommen würde. Außerdem gefiel ihm die Barkeeperin gut, und sie fand seine Geschichten aus Deutschland interessant (er übertrieb und dramatisierte ein bisschen, aber es war ja nicht seine Schuld, dass er etwa fünfzig Jahre zu spät gekommen war, um Deutschland von den Nazis zu befreien, und stattdessen in Wirklichkeit eine eher ruhige Zeit in der Kaserne bei Erfurt verbracht hatte).
    Die Barkeeperin war mit einem Geschäftsmann befreundet, dessen Bruder Geld in Deutschland investieren wollte, und weil er für seine Geschäfte dort Leute brauchte, die loyal waren und Deutsch konnten, freute er sich, als er Andrej und Igor kennenlernte. Er lud sie in einem Einkaufszentrum auf einen Mokka ein und rief einen Zahnarzt an, der sich irgendwann um Andrejs Gebiss kümmern sollte.
    Eine Woche später waren Igor und Andrej zurück in Deutschland, diesmal als Geschäftsleute und ohne genau zu wissen, was sie zu tun haben würden. Man hatte ihnen Visitenkarten mit ihren Namen und der Aufschrift »Wirtschaftsdienste aller Art« gedruckt. So saßen sie in ihrer Lieblingsbar und warteten auf Aufträge aus Moskau.
     
    Radonovicz hatte die beiden damals kennengelernt, als er die russischen Kasernen mit Schweinefleisch belieferte. Manchmal waren auch die Russen mit einem Lastwagen auf den Hof gekommen und hatten das Fleisch abgeholt, irgendwann hatten sie bei ihm geklingelt und waren zum Trinken dageblieben, und danach waren sie noch ein paarmal wiedergekommen, und sie hatten zusammen die ZDF-Hitparade angeschaut; seine Frau, Ilse Radonovicz, ließ keine Sendung aus, und sie war aufgeregt und fieberte mit, wenn Roland Kaiser mit einem bis zum Bauchnabel aufgeknöpften Hemd »Schachmatt« sang; sie liebte seinschiefes Lächeln und schloss immer die Augen, wenn die Adresse für Fanpost eingeblendet wurde: Wittelsbacher Straße 18, 1000 Berlin 31 – West-Berlin. Diese Adresse begleitete sie durch ihre Träume, und später, als die Mauer gefallen war, fuhr sie sogar einmal dorthin. Und war enttäuscht, als sie nur die Musikproduktionsfirma eines Herrn Dr. Kunz vorfand; genauso enttäuscht war sie, als sie erfuhr, dass Roland Kaiser gar nicht Kaiser, sondern Ronald Keiler hieß und seinen Namen vom Schweinischen ins Majestätische gewandelt hatte, weil man ihm nahegelegt hatte, jemand, der Keiler heiße, werde es nicht weit bringen mit romantischen Schlagern.
     
    Abgesehen davon, dass die Russen wieder da waren, war in der Bar alles wie immer. In einer Ecke saß der alte Köhler und schielte auf die Tür, ob jemand auftauchte, mit dem er sich unterhalten konnte. Weil alle, die kamen, seine Geschichten schon kannten, erzählte er sie ohne benennbaren Adressaten mitten in den Raum hinein. Die Gäste kümmerten sich nicht darum; für sie waren Köhlers Geschichten zu einer Art Hintergrundrauschen geworden, so wie das Surren des Kühlschranks oder das Gurgeln des Ablaufs unter den Zapfhähnen; ab und zu nickten sie ihm freundlich zu. In der anderen Ecke saßen ein paar Arbeiter und vorn am Fenster Radonovicz und Thomyk.
     
    Er hatte Thomyk in der Futterbrigade des Schweinezuchtbetriebs kennengelernt, in dem sie damals arbeiteten. Thomyk war riesig, über zwei Meter groß, und schon damals sehr dick. Das Hemd spannte über seinem Bauch, wenn er nach Feierabend vor seinem Teller Bratkartoffeln saß, die er mit leidenschaftlicher Hingabe aß, und meistens fehlten die Knöpfe über dem Bauchnabel; sie sprangen immer wieder ab. Thomyks Gesicht war rund und freundlich, und seine Augen saßen in seinem Kopf wie kleine, hektische Tiere, die aus einer Höhle herausschauten. Seine Haare hatte er sorgfältig gescheitelt, der Nacken war ausrasiert. Es war nicht einfach, erzählt Radonovicz, Thomyk zum Aufstehen zu

Weitere Kostenlose Bücher