Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Dobermännern sprach als mit Menschen, zuwider war; er holte Zuchtschweine ab und lieferte Fleisch aus, er fuhr in westdeutsche Provinzstädte und traf Bauernverbandsvertreter und Agentinnen biologisch-dynamischer Vertriebsketten, die kein Bier tranken und mit ihm über den Einfluss von Mondphasen und Gezeiten auf Milch- und Fleischqualität sprachen.
Die Reiseziele selbst entpuppten sich allerdings oft als Enttäuschung. Er fuhr nach Gießen und stellte fest, dass es dort schlimmer aussah als in Halle-Neustadt. Er fuhr nach Nürnberg und kam mit Magenschmerzen zurück, woran die schwarzverbrannten Würstchen schuld waren, die er unvorsichtigerweise gegessen hatte. Er fuhr an die Nordsee, traf einige wortkarge niedersächsische Bauern, die windschief hinter grünen Holztüren saßen und von ökologischen Schweinen nichts hören wollten. Die einzigen Lebewesen, denen er in Schleswig-Holstein begegnete, waren dreißig stumme Schafe, vier stumme Bauern und ein magerer Rechtsanwalt. Den Westen hatte er sich anders vorgestellt.
Jeden Freitag stülpte sich Patrick Radonovicz einen weißen Trainingsanzug aus Ballonseide und atmungsaktiven Spezialmaterialien über, ein Aufzug, von dem er wusste, dass er ihn in den Augen seiner Mutter wie einen erfolgreichen Trainer aussehen ließ, schwang sich in seinen Renault und fuhr aufs Land, um im Betrieb Order von seinem Vater entgegenzunehmen. Dann betrat er, als erfolgreicher Fitnesstrainer verkleidet, das Wohnzimmer. Er war muskulös und eher untersetzt,eins fünfundsiebzig vielleicht, sein Mund schmal und leicht nach unten gebogen, die Augenlider hingen schwer, über dem linken Auge tiefer als über dem rechten. Seine Mutter sprang, wenn er kam, aus der Sofamulde auf, rief »Junge!« und »komm rein« (sie rief immer »komm rein«, auch wenn er direkt vor dem Fernseher stand). Es folgten die immer gleichen mütterlich besorgten Fragen – »Willst du ein Brot? Ich mache dir eine schöne Bemme. Wir haben alles da, Fleischsalat, Mortadella, Frühlingsquark, was du willst« –, dann schnaufte Ilse Radonovicz in Richtung Kühlschrank, stützte sich mit der rechten Hand gegen die Kante der Spüle, riss die Kühlschranktür auf und versuchte, die herauspurzelnden Aufschnittpakete mit der linken Hand aufzufangen. Seit ihr Sohn in Jena lebte, wurde sie den Verdacht nicht los, dass er sich fehlerhaft ernährte, eine Befürchtung, die sich bei ihrem ersten und einzigen Besuch in seinem Apartment bestätigt hatte; die Backbleche im Herd waren noch fabrikneu in Plastikfolie eingeschweißt gewesen.
Die folgenden Stunden waren die, die Patrick Radonovicz in der Woche am meisten hasste und immer auf die gleiche Art zu überstehen versuchte: auf der Couch sitzend, ein Bier in der Hand; in einem Trainingsanzug, der aussah, als sei er für die Evakuierung brennender Wohnungen entwickelt worden; neben sich den vollkommen überfressenen Hund, in dessen Bauch nach sechs Stunden Fernsehen etwa drei Kilo Toffifee lagerten und dessen Verdauungstrakt Geräusche produzierte wie eine defekte Spülmaschine – in dieser gleichzeitig komfortablen wie beklemmenden Freitagabendposition harrte er aus, bis die Kollegen seines Vaters aus dem Betrieb oder, noch schlimmer, die Nachbarn vorbeischauten.
Ilse Radonovicz war im Grunde eine großzügige, hilfsbereite und neidlose Frau, aber wenn es um die Böhrnagels von nebenan ging, konnte sie nicht anders – sie musste vergleichen, und sie konnte es nicht ertragen, wenn sie etwas Neues hatten oder wenn Holger, der Sohn der Böhrnagels, Karriere machte. Offiziell tat sie so, als freue siesich über die Meldungen aus dem Hause Böhrnagel; man war schließlich befreundet, und Bernd Böhrnagel war im Vorstand des Betriebs. Aber wie sehr es sie quälte, wenn Böhrnagels aus ihrer Sicht vorne lagen, bekam Radonovicz immer wieder zu spüren; so war es auch gewesen, als er ihr den Mercedes vorgeführt hatte.
Radonovicz hatte versucht, ihr die Vorzüge des Wagens vor Augen zu führen, hatte erklärt, dies sei ein Klassiker, ein 1971er, so was finde man heute überhaupt nicht mehr, aber er konnte sie nicht überzeugen. Böhrnagels hatten keinen Klassiker, und überhaupt schien ihr diese Bezeichnung nur ein hinterlistiger Trick zu sein, um das Wort »Schrottkarre« zu vermeiden. »Holger Böhrnagel«, führte Ilse Radonovicz deswegen ins Feld, »hat sich einen großen BMW gekauft, achtzigtausend Mark, und seine Frau fährt ein neues Mazda
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