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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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den osteuropäischen Ländern blieben aus. Die Holländer machten die ehemalige Produktionsgenossenschaft dicht. Die Textilindustrie starb als nächstes; bald glich die Gegend einem Geisterland – und als erstes verschwanden die jungen Frauen. Ilse Radonovicz wurde trotzdem schon wenige Monate später Großmutter.
     
    Tamara Radonovicz spielte seit ihrem sechsten Lebensjahr Klavier. Eine Großtante, die Sängerin war und früh das Talent des Mädchens erkannt hatte, hatte ihr das Klavier vererbt und dazu eine beachtliche Summe Geld, die für den Klavierunterricht und als Anzahlung für das Konservatorium gedacht war, und während Tamaras kleiner Bruder so furchtbare Töne aus seiner ersten Blockflöte herausquälte, dass man ihn schnell in einen Sportverein steckte, entwickelte Tamara erstaunliche Fähigkeiten.
    Menschen weinten, wenn sie spielte. Bei einem ihrer Schulauftritte entdeckte sie der Leiter eines Interhotels; seitdem trat sie, obwohl ihr Vater dagegen war, jedes Wochenende nach der Schule unter den beifällig nickenden Blicken tschechischer und russischer Geschäftsreisender an der Bar des Hotels Merkur auf.
    Im April 1991 ging sie nach Köln; sie wollte Musik studieren. Sie zog in ein Hochhaus in Köln-Finkenberg. Die Hausnummern waren mit bunter Farbe auf die Türen gemalt; im Hausflur roch es nach Erbsensuppe, Börek und scharfen Reinigungsmitteln. Ihre Wohnung lag im fünfzehnten Stock; von hier aus konnte sie bequem beobachten, wie die Jugendlichen aus ihrem Viertel nach Einbruch der Dunkelheit versuchten, ein paar Mülltonnen anzuzünden. Gegenüber standen weitere Hochhäuser mit verwitterten Fassaden. Alles sah aus, als sei sie gerade in die DDR gezogen.
     
    Ihre Kommilitoninnen waren blasse Mädchen, die in einer Million Übungsstunden die Farbe absterbender Pflanzen angenommen hatten und angespannt dem nächsten fehlerfreien Auftritt entgegenfieberten. Tamara studierte auf Lehramt und war entspannter als sie. Eine Freundin fand sie unter ihnen nicht. Nachts lag sie in ihrem Bett und sah das Licht der Ampel, die von Rot auf Grün auf Orange und wieder auf Rot umsprang, als changierenden Schimmer an der Zimmerdecke. Sie vermisste ihre Freunde, ihre Eltern, den Klang der frühmorgens vorbeiheulenden Landmaschinen, ihren Bruder, um dessen Zukunft die Familie sich größere Sorgen machte; sie hatte Heimweh.
    Im Januar 1995 lernte sie in einer Bar einen Mann kennen, der aus Gera stammte. Er arbeitete bei Ikea, wo er die Einkaufswagen zusammenschieben und nach Geschäftsschluss die Bälle im Kinderparadies einsammeln musste. Als sie sich das zweite Mal trafen, brachte er ihr statt Blumen ein paar Plastikbälle mit. Die Kugeln rochen seltsam, vielleicht nach Kindersocken.
    Sie gingen in eine Bar und erzählten sich Geschichten aus dem Pionierlager und von der Jugendweihe. Morgens um fünf küsste er sie, und am Abend kam er in die Bar des Vertreterhotels, in der sie damals spielte. Eine Zeitlang trafen sie sich jeden Abend, und ihr Heimweh legte sich. Bald stellte sich aber heraus, dass er ein launischer Mensch war, besonders an den Tagen, an denen bei Ikea wieder ein Kind auf die Kugeln gepinkelt hatte und er alles aufräumen und reinigen musste. Als Tamara erfuhr, dass sie schwanger war, sagte er ihr, sie sei viel zu jung für ein Kind. Sie stritten sich, er ging, und sie telefonierten noch ein paarmal, dann hörte sie nie wieder von ihm.
    Ihr Vater besuchte sie jetzt fast jedes Wochenende, um ihr etwas mitzubringen, Decken, kleine Geschenke, eine neue Uhr; er kam jeden Samstagvormittag und fuhr am Abend wieder heim: Das letzte, was sie dann von ihm sah, waren die breiten, alten Rückleuchten des SL.
    Patrick fuhr nach Gera und versuchte herauszufinden, wo der Erzeuger des Kindes lebte, um ihn zu verprügeln. Er traf aber nur die erschreckten Eltern des Jungen an; bei Ikea hatte er gekündigt.
     
    Kurz nach Weihnachten bekam Tamara Radonovicz einen Jungen, den sie Sylvester nannte. Im Mai begann ein Bautrupp, den Acker am Ortsrand von Jena, wo Patrick Radonovicz lebte, umzugraben. Sie bauten mit Aufbau-Fördermitteln eine neue Ortsumgehungsstraße und daneben ein Gewerbegebiet. Die Straße glänzte schwarz und roch wochenlang nach warmem Teer. Im Februar eröffnete die neue Shell-Tankstelle, im März Elf. Im April kamen ein Baumarkt und ein Citroënhändler dazu. Im Mai mietete ein Fitnesscenter zwei Etagen im Gewerbegebiet und bot Whirlpool, Sauna, Schwimmbad und vierzig Geräte an. Es wurde

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