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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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westlichen Welt darstelle (»die Chinesen werden uns überrennen, das ist unvermeidlich«, sagte er und schaute sorgenvoll auf eine verkümmerte Palme), andererseits könne man sich diesem Prozess nicht entziehen, denn in Anbetracht der Tatsache, dass man heute in Idaho keine Näherinnen mehr bekomme – »noch zwei Gin Tonic bitte, vielen Dank« –, die Leder fachgerecht vernähen könnten, die Nähte eines Portemonnaies müssten nämlich …
     
    Ein indischer Kellner erschien am Strand und reichte Radonovicz ein blumenvasengroßes tragbares Telefon. Thomyk war am Apparat; er schrie schwer verständliches Zeug in den Hörer. Radonovicz versuchte ihn zu beruhigen, während er mit dem Zeh Kreise in den feinen Sandmalte, aber Thomyk war nicht zu beruhigen; es gebe ein Angebot für den Betrieb, ein holländischer Großmastbetrieb wolle einsteigen, die Mehrheit der Anteilseigner sei für die Übernahme, er, Thomyk, sei dagegen, aber niemand, niemand höre auf ihn, die Holländer hätten die Anteilseigner mit Prämienversprechen geschmiert, niemand könne mehr klar denken, zum Kotzen sei das, vor allem Böhrnagel und sein geldgieriger Sohn!
    Während Thomyk im Nieselregen eines Märzvormittags in Mitteldeutschland diese beunruhigenden Neuigkeiten in den Telefonhörer brüllte, beobachtete Radonovicz unter einer Palme eine Schildkröte, die vermutlich schon während der Thronbesteigung des deutschen Kaisers auf dieser Insel gelebt hatte und entsprechend langsam, gedrückt von ihrem massiven Panzer, durch den Sand wankte.
     
    Drei Tage später reisten sie wieder ab. Ilse berichtete immer noch aufgeregt von Süßlippenfischen, Korallen, Meeresschildkröten, Muränen und anderem Getier, das sie unter Wasser entdeckt hatte, dann schlief sie an seiner Schulter ein. Radonovicz schaute aus dem ovalen kleinen Fenster der Boeing; unten verschwand die Inselgruppe im Dunst. Er war froh, dass es vorbei war. Er hatte einen Sonnenbrand und finstere Vorahnungen.
     
    Ein paar Wochen später lernte er die Holländer kennen. Er sah, wie sich ihr Wagen an den alten Lagerhallen vorbei den Feldweg emporkämpfte und schließlich ein paar Meter neben den alten Stallungen stehen blieb; wie zwei kleine, untersetzte Herren mit eigenartigen Schnallenschuhen ausstiegen, die interessanterweise beide, obwohl offenbar nicht verwandt, ein auffällig fliehendes Kinn hatten; wie dann der eine Holländer eine ausgebeulte Aktentasche aus dem Kofferraum des Wagens lud und sie ins Haus trug. Dort eröffnete der Mann mit einem kurzen Nicken die Verhandlungen. In einem brüchigen, akzentschweren Deutsch erläuterte er die Interessen seiner Investorengemeinschaft, hinter der sich ein chinesisches Konsortium verbarg, dessen Namen Radonovicz sofort wieder vergaß. Der Holländer trug eincurryfarbenes Hemd und eine Krawatte mit fliederfarbenen Arabesken. Mit ihnen war ein Chinese angereist, der sich anscheinend um den Export des Fleischs ins Ausland kümmern sollte. Der Chinese griff, während sich die Anteilseigner über die von den Holländern vorgelegten Verträge beugten, in die Keksdose, die Ilse Radonovicz auf den Tisch gestellt hatte; beim dritten Keks neigte er seinen Kopf höflich in ihre Richtung und sagte: »Lakker!«
    Auch Ilse schien ihm gut zu gefallen.
     
    Der Verhandlungsführer erklärte: »Wir wollen Sie nicht beunruhigen. Wir wollen gemeinsam mit Ihnen mehr aus dem Betrieb machen.« Dann holte er mehrere verschiedenfarbige Folien aus seiner Aktentasche, schlug die Beine übereinander und überließ seinem kinnlosen Kollegen das Wort. Der Plan sah vor, in den bestehenden Gebäuden und auf den Flächen der ehemaligen Produktionsgenossenschaft einen Schweinezuchtbetrieb mit insgesamt dreißigtausend Tieren unterzubringen. Man solle sich keine Sorgen machen, fast niemand würde, nach dem Stand der Dinge, entlassen werden, sagte nun wieder der erste Kinnlose, obwohl auch – hier saugte er kurz Luft durch seine spitzen, kurzen Zähne und klickerte nervös mit dem Druckknopf seines Kugelschreibers – personelle Restrukturierungsmaßnahmen unvermeidbar seien, er müsse wohl nicht weiter ausführen, dass in der DDR die ökonomische Unternehmensführung nicht den internationalen, westlichen Standards entsprochen habe; man bevorzuge für die Überschreibung des Betriebs das unter Punkt 32.1.3. skizzierte Modell, das man in der Anlage zum Datenblatt 32 finde und jetzt bitte kurz gemeinsam anschauen wolle. Böhrnagel war begeistert; er witterte ein

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