Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
still in Patricks Fitnessstudio. Im Juli musste er schließen.
Er verkaufte die Geräte nach Polen, um den Kredit bedienen zu können. Am Nachmittag ging er ins Spielcenter und traf ein paar Freunde, die ebenfalls arbeitslos waren, und wenn das Spielcenter abends schloss, gingen sie noch auf ein paar Doppelkorn in den Gasthof. Als ihn dort ein Westdeutscher, den er nicht kannte, auf dem Weg zur Toilette anrempelte, schlug er ihm mit der Faust unters Kinn.
Zwei Monate später stand Patrick Radonovicz im langen Korridor des alten Amtsgerichts und blinzelte in den Staub, der im ungefiltert hereinbrechenden Sonnenlicht aufwirbelte, sobald jemand eine Tür aufriss. Er hörte Schuhe auf blassgrünen Linoleumböden quietschen, spürte die kalte, feuchte Hand seiner Schwester, die aus Köln angereist war, um bei ihm zu sein, ging in den Saal hinein, als eine krachende Lautsprecheranlage seinen Namen ausspuckte. Einen Gerichtssaal hatte er sich beeindruckender vorgestellt; er war nicht größer als ein Klassenzimmer, durch die alten Flügelfenster blendete die Sonne. Auch der Richter kniff die Augen zusammen, sein Gesicht war ein Haufen feindseliger Falten.
Er habe den Mann nicht schlagen wollen, sagte Patrick Radonovicz, er sei nur sauer gewesen auf alles.
Ob er sich präziser ausdrücken könne. Ob er persönliche Probleme habe?
Hatte er. Er war sauer wegen des Fitnessstudios. Sauer, weil er nach der Pleite keinen Job beim Autohaus Pfeil bekommen hatte und auch nicht in der Gaststätte Thüringer Eck oder bei dem alten Jugo-Händler Heinke. (Der Jugo war einmal ein beliebter Kleinwagen aus Jugoslawien gewesen, aber jetzt fuhren die Leute andere Autos, und Jugo war ein Schimpfwort.) Weil er nicht zu seinen Eltern auf den Hof zurückwollte, wo alles brachlag, seit die Holländer da gewesen waren – all das, so erläuterte sein Anwalt, habe sich in dem Schlag entladen, der den Typen ins Gesicht traf.
Der Richter glaubte ihm kein Wort; trotzdem kam Patrick mit einer Bewährungsstrafe davon.
Thomyk wollte seine Frau sehen. Man versuchte, ihn davon abzubringen, aber da er Radonovicz immer wieder von dem Plan erzählte, war klar, dass er es ernst meinte und auf Beistand hoffte. Also schlug Radonovicz ihm vor, mit ihm nach Berlin zu fahren.
Thomyk war aufgeregt. Seit seiner FDJ-Zeit war er nicht mehr in der Hauptstadt gewesen, und noch nie war er über die Avus in die Stadt gefahren; auch den Kurfürstendamm kannte er nur aus Erzählungen.
Der Kurfürstendamm enttäuschte sie; anders als auf der Frankfurter Allee empfing sie hier keine prächtige Torarchitektur, sondern eine Reihe einbetonierter Cadillacs, ein Kunstwerk; es waren seltene Cadillacs, und es war Unsinn, fand Radonovicz, sie hier einzuzementieren. Er parkte den Mercedes vor einem Prada-Laden, aus dem wie aus einer Intensivstation grünes Licht auf die Straße fiel. Zwei Männer kauften Schuhe, die wie Schlittschuhe ohne Kufen aussahen. Die Anzüge und Röcke von Prada hatten die gleiche graue und braune Farbe wie die Arbeitskleidung auf dem Hof, nur dass sie das Zwanzigfache kosteten – überhaupt zeugte die Kleidung des Westens von einer eigenartigen Sehnsucht nach Zuständen, die man anderswo als bedauerlich empfand. Der Westen hatte, übersättigt von Glitzer-, Glanz- undFettjahren, die Ästhetik des Mangels entdeckt, den Minimalismus, das Dünne und Leichenblasse, die Sehnsucht nach dem Einfachen. Radonovicz konnte damit nichts anfangen. (»Schau mal«, sagte er zu Thomyk, »so einen Kittel haben wir auch noch im Stall hängen.«)
Ein Mann überreichte ihnen ein Faltblatt, auf dem für Seminare des Rosenkreuzerordens geworben wurde. »Was ist der Mensch?«, stand dort. »Wiedergeburt oder Reinkarnation. Die Welt jenseits von Raum und Zeit. Transfiguration – der Weg in die Übernatur.« Darunter, in kursiver Schrift: »Esoterische Vorkenntnisse werden nicht vorausgesetzt.« Der Mann fragte, ob sie eine Minute Zeit hätten, und erzählte mit leuchtenden Augen von Hermes Trismegistos, Katharern und Rosenkreuzern. »Die Rosenkreuzer«, sagte er und packte Radonovicz am Ärmel, »weisen einen Weg, der zuerst zu einer tiefen Selbsterkenntnis führt, zum Erleben des ichbezogenen Bewusstseins, das sich an die Materie bindet und die Grenzen unserer Freiheit absteckt.« Radonovicz schüttelte den blassen Mann ab und setzte sich in ein Café. Thomyk wollte ein Geschenk für seine Frau kaufen und verschwand für eine halbe
Weitere Kostenlose Bücher