Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
das Gefühl, dass der Westen ihnen nicht nur seine kaputten Autos, sondern auch noch diekaputten Musiker andrehen wollte, die drüben nicht mal die Leute in Bielefeld hören mochten.)
Sie feierten seinen sechzigsten Geburtstag. Freunde kamen und hielten Reden auf ihn und warfen Fotos auf eine Leinwand, die ihn bei Festen zeigten, meist unvorteilhafte Profilaufnahmen; er bedankte sich bei den Rednern herzlich, war insgeheim aber erschrocken darüber, wie die Welt ihn sah.
Ilse überraschte ihn, um ihn aufzuheitern, mit Karten für ein Udo-Jürgens-Konzert, aber er hatte keine Lust. Also nahm Ilse den Mercedes und fuhr mit Frau Böhrnagel zu dem Konzert. Ihre Plätze waren weit vorn; Ilse Radonovicz weinte während des gesamten Konzerts.
Radonovicz meldete sich arbeitslos. Er wusste, dass er in seinem Alter nicht mehr vermittelbar war; am Abend saß er stundenlang am Küchentisch und rechnete, wie lange ihr Geld reichen würde. Sie sahen jetzt oft schon am Morgen fern. Während im Dorf die Bäckerei und der Schlachter dichtmachten und die Welt draußen immer weiter schrumpfte, wuchs sie in ihrem Fernseher; sie entdeckten immer neue Programme und Serien. Bald bestimmte das Fernsehprogramm ihren Tag, und nach einem Glas Wein passierte es Ilse mehr als einmal, dass sie aufschreckte, weil sie glaubte, einer Nachbarin sei etwas Furchtbares passiert, bis ihr einfiel, dass es die Nachbarin aus der Lindenstraße war; immer öfter brachte sie ihr eigenes Leben mit dem Elend durcheinander, das sie im Fernsehen sah.
Patrick lieh sich ein paarmal den Mercedes aus. Er fuhr dann über die holprigen Kopfsteinpflasterstraßen nach Chemnitz, aber dort war es genauso trostlos. Einmal lernte er eine Frau kennen, Janine, die oben am Heeresberg wohnte. Sie fuhren den Schänkenberg hoch, von Gera-Oberröppisch nach Gera-Unterröppisch, und danach gingen sie ins Kino und sahen sich Pretty Woman an. Am nächsten Tag fuhren sie zur weißen Elster, die glitzernd durch die Wiesen floss, bis in die Stadt, zum Stadion.
Sie trafen sich eine Woche lang jeden Tag nach der Arbeit und fuhren über die Landstraßen und zum Ziegenberg. Gera spielte und verlor, und sie saßen unten am Fluss und aßen Würstchen von der Tankstelle. Sie küssten sich, und Janine legte erst ihre Füße und dann die Schale mit den Würstchen aufs Armaturenbrett, und als er versuchte, im Auto mit ihr zu schlafen, lief die Soße in die Lüftungsschlitze; danach roch es, wenn man das Gebläse anstellte, im Wagen nach Curry.
Er schrie sie wegen des versauten Wagens an, und sie schrie zurück und stieg schließlich aus. Ein paar Leute, die am Ende des Parkplatzes standen, drehten sich nach ihnen um und schüttelten den Kopf; zwei Menschen vor einem alten, verspoilerten Mercedes, die sich anbrüllten – das hatte man jetzt von den Segnungen des Westens.
Am nächsten Abend lernte Janine in einer Disco einen Betriebswirt aus Kassel kennen. Er sah sie, wie sie hinter die Böschung der Fernstraße gingen. Patrick wollte den Typ zusammenschlagen, aber da waren die beiden schon verschwunden, und niemand wusste, wohin.
Patrick fand keine neue Freundin. Es gab keine Frauen mehr in dieser Gegend; auf eine Frau kamen, statistisch gesehen, zehn Männer, und wer eine abbekommen hatte, hütete sie mit der Aggression eines aufgebrachten Tieres. In den wenigen Cafés sah man nur Paare, in den Bars gar keine Frauen, und die Discotheken waren in dieser Hinsicht leergeräumt wie die Regale der DDR in ihren schlimmsten Jahren. Im November 1995 kaufte Patrick sich einen kleinen, grimmigen Hund mit krummen Beinen; es war ein muskulöses Tier mit einem gewaltigen Gebiss, das einen Maulkorb brauchte. In dieser Zeit trainierte Patrick viel in seinem eigenen Studio; bald sah er so ähnlich aus wie der Hund. Er wurde etwas unbeweglich; seine langen, schweren Arme baumelten neben ihm wie fremde Wesen; er war stolz, dass selbst XL-T-Shirts am Oberarm spannten; eine Frau fand er damit nicht.
Das große Schlachten hatte 1990 begonnen. Sie hatten siebenunddreißig Milliarden Quadratmeter Forst und Ackerboden zu lächerlichen Preisen verschleudert. Die Privatisierung der volkseigenen Betriebehatte das Geld für die Modernisierung der ostdeutschen Wirtschaft bringen sollen, aber durch die Einführung der D-Mark im Währungsgebiet der DDR geriet die ostdeutsche Wirtschaft unter einen Druck, dem sie nicht standhalten konnte. Niemand wollte mehr etwas kaufen, und auch die Aufträge aus
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