Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
einmaliges Geschäft. Die Holländer hatten bereits im großen Stil ehemalige DDR-Betriebe aufgekauft, sie schienen ihm vertrauenswürdig.
Thomyk kämpfte gegen die Holländer, wie er noch nie gegen etwas gekämpft hatte. Er kandidierte sogar für das Amt des Bürgermeisters, nur um den Ausverkauf seiner Heimat aufzuhalten. Er hielt eine Brandrede vor der Belegschaft. Er sagte, bis September 1992 seien überviertausend Betriebe privatisiert und tausendachthundertfünfzig Unternehmen stillgelegt worden: die Leder- und Schuhindustrie und die Textil- und Bekleidungsindustrie würden systematisch kaputtgemacht; die westdeutschen Käufer hätten versprochen, rund 1,3 Millionen Arbeitsplätze zu schaffen und hundertfünfzig Milliarden Mark zu investieren, stattdessen sei in den privatisierten Treuhandfirmen das Personal knallhart abgebaut worden, zwischen Juli 1990 und April 1992 hätten in diesen Firmen zweihundertzwanzigtausend Menschen ihre Arbeit verloren. Er gab der Lokalzeitung ein Interview, in dem er den Einstieg der Holländer den Anfang vom Ende nannte.
Wenig später erschien in der gleichen Lokalzeitung ein Artikel, der Thomyk unterstellte, zu DDR-Zeiten für die Stasi Kollegen bespitzelt zu haben und Sympathien für das RAF-Kommando zu hegen, das Rohwedder umgebracht hatte. Geschrieben hatte ihn ein Praktikant der Zeitung aus Wuppertal, der Robin Bergorius-Wandenberg hieß und wie Rod Stewart zu seinen allerschlimmsten Zeiten aussah. Thomyk, der nie irgendjemanden bespitzelt hatte, fing Bergorius-Wandenberg vor der Redaktion ab und stellte ihn zur Rede, aber der Reporter veranstaltete so ein jämmerliches Geschrei, dass er ihn ziehen lassen musste. Am Abend bekam Thomyk Besuch von der Polizei. Bergorius-Wandenberg hatte ihn wegen diverser Straftatbestände angezeigt. Auch darüber berichtete die Lokalzeitung. (»Wir haben«, sagt Radonovicz heute, »hier wirklich nur die allerschlimmsten Arschlöcher zu sehen bekommen, die sie im Westen hatten. Die absoluten Vollidioten.«)
Eine Woche danach fand Thomyk an der Haustür einen Zettel, auf dem »Thomyk pass auf« stand. Jemand hatte ihm die Wohnzimmerscheibe eingeschmissen. Er verlor die Wahl. Wenn er morgens aufwachte, hatte er das Gefühl, eine furchtbare Dummheit begangen zu haben; er fühlte sich beschämt. Wenn er zu Radonovicz fuhr, sah er am Straßenrand auf den Plakaten sein zerrissenes, aufgeweichtes und beschmiertes Gesicht; auf einem Plakat prangte das Wort »Stasi« auf seiner Stirn.
Im September trafen sich die Holländer mit Woitha, den Böhrnagels und einem westdeutschen Agrarökonomen. Sie entwarfen einen Verkaufsvertrag und gingen anschließend in ein Bordell.
Die Übernahme fand im November statt. Die Holländer kassierten einen Haufen Subventionen, die zur Erhaltung ostdeutscher Arbeitsplätze gedacht waren, verkauften einen Teil der Immobilien und lösten ein halbes Jahr später den Betrieb wegen Unwirtschaftlichkeit auf: Sie hätten, erklärten die Investoren, die mangelhafte Wettbewerbsfähigkeit ostdeutscher Betriebe unterschätzt. Die Fördermittel hatten sie in die Erweiterung eines noch günstiger produzierenden Mastbetriebs in Rumänien gesteckt (das Geschäftsmodell hieß auch »Hennemann-Trick«, benannt nach Friedrich Hennemann, dem Exchef der Bremer Vulkan-Werft, der auf diese Weise mit Ostsubventionen seine eigenen Pleiteunternehmen im Westen sanierte). Die Holländer entließen die Belegschaft bis auf drei Leute, die sich mit einem Anwalt aus Leipzig um die Abwicklung der Tierbestände und der Gerätschaften kümmern sollten. Auch Thomyk entließen sie – und Radonovicz; er wurde aus dem Betrieb geworfen, den er selbst aufgebaut hatte. Dann verschwanden die Holländer aus dem Dorf; es hieß, sie hätten sich von ihrer Provision Villen in Meerane gekauft, in denen sie hin und wieder auftauchten und ihre Zeit mit tschechischen Prostituierten verbrachten.
In den kommenden Wochen ging es Radonovicz schlecht. Er fuhr kaum noch mit dem SL; er hatte keinen Hunger und konnte nicht schlafen. Seine Frau machte ihm Rührei mit Speck und kaufte ihm Zeitschriften, die er gern las. Sie entstaubte den Plattenspieler und legte eine alte Single auf, zu der sie oft getanzt hatten.
Früher waren sie oft tanzen gegangen, aber jetzt gab es nur noch eine Großraumdisco, das Galaxy, und die Ü30-Partys in Quetz, aber weil sie keine Lust auf Fleetwood-Mac-Coverbands aus Bielefeld hatten, gingen sie dort nie hin. (Radonovicz hatte
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