Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Mikrofon ab und imitierte ihre linkischen Bewegungen, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und schrie schließlich »ei wohs määäht« ins Mikrofon. Der Saal brüllte vor Lachen. »Na ja … Mädchen, Mädchen … da habt ihr unseren Ohren ja was eingebrockt mit euren neuen Bundesländern … Aber die Stimme ist nicht schlecht, gar nicht schlecht!« Das Mädchen wurde rot und brach dann in Tränen aus. Ein Transvestit trat als nächster ans Mikrofon und sang »Stand by Your Man«, wurde aber von der Bühne heruntergebuht. Sie verließen das Lokal und fuhren nach Hause.
Einmal in diesem Jahr sah es so aus, als ob Thomyk doch noch ein glücklicher Mensch werden würde. Er hatte eine Frau aus Moldawien kennengelernt, die in Querfurt für eine Gebäudereinigung arbeitete,nachdem sie in Wien aus einem Saunaclub abgehauen war. Sie hieß Ekaterina und war dreißig; Thomyk lieh sich Radonovicz’ Mercedes aus und fuhr mit ihr und dem Hund irgendwohin. Niemand wusste später genau, was sie an diesem Wochenende gemacht hatten, und er wollte, nachdem sie verschwunden war, auch nicht mehr darüber sprechen.
Am 24. Oktober kam Thomyk am frühen Abend bei Radonovicz vorbei. Er war in einer finsteren Stimmung; der Tierarzt hatte ihm gesagt, dass der Hund sehr krank sei, er würde es vielleicht noch drei, vier Wochen machen, nicht länger. Thomyk hatte viertausend Mark gespart; er hatte sie dem Arzt angeboten, aber der hatte erklärt, dass das nichts mehr helfen würde. Das Tier habe starke Schmerzen; wenn er ihm einen Gefallen tun wolle, solle er den Hund einschläfern lassen.
Radonovicz schlug Thomyk vor, in die Jägerstuben zu gehen. Aber Thomyk hatte keine Lust, in die Jägerstuben zu gehen. Er saß eine Stunde bei Radonovicz auf dem Sofa und kraulte das Tier. Dann fuhr er nach Hause.
Zuletzt wurde Thomyk an der Tankstelle gesehen. Er hatte an den Tischen neben dem Regal mit den Duftbäumen und den Country-Kassetten gesessen und eine Stunde lang mit einer halben Bockwurst Senf, Ketchup und Mayonnaise auf einem Plastikteller verrührt. Dann war er zum Schlachter gefahren und hatte drei Rinderfilets gekauft; er habe sich gewundert, gab der Schlachter später zu Protokoll; es sei ja bekannt gewesen, dass Thomyk seinen Job verloren hatte und knapp bei Kasse war. Normalerweise kaufte er Hack und Pansen für den Hund, nichts Teures, aber an diesem Donnerstag habe er die besten Filets verlangt. Er habe Thomyk eins der Filets schenken wollen, sagte der Schlachter, aber Thomyk habe darauf bestanden, alle drei zu bezahlen.
Thomyk hatte aufgegeben. Er hatte keine Lust mehr, sich Hoffnungen zu machen. Er hatte Verständnis dafür, dass eine Frau einen Mann wie ihn irgendwann verlassen musste. Er hatte keine Lust, die demütigende Abwärtsspirale durch Arbeitsämter, Schuldnerberatungen und Sozialhilfeantragsformulare anzutreten. Er hatte für den Betrieb gelebt, und den Betrieb gab es nicht mehr. Er hatte den Ort retten wollen, und der Ort hatte ihn nicht gewollt. Er holte sein Gewehr, brachte den Hund ins Haus und legte die Rinderfilets in die Pfanne; er briet sie nur kurz an, bei schwacher Hitze. Dann schüttete er dem Hund eine Portion Frolic in seinen Napf, legte die Filets darauf und wartete, bis das Tier alles aufgefressen hatte. Als der Hund fertig war und sich auf den kalten Steinboden legte, trat er hinter ihn und schoss ihm zweimal in den Kopf. Danach stellte er das Gewehr in den Schrank zurück, trat vor das Haus, setzte sich ans Steuer seines violetten Ford Scorpio, fuhr auf die Landstraße und gab Gas. Einen Kilometer von seinem Haus entfernt raste er gegen einen Alleebaum; er war sofort tot. Bei der Trauerfeier war von einem tragischen Unglücksfall die Rede, der Thomyk zu früh aus dem Leben gerissen habe. Die Alleebäume wurden ein paar Monate später abgesägt.
Radonovicz sprach vier Tage lang kein Wort.
Dann stieg er in den Mercedes, drehte die Musik auf – irgendeine Schnulze von Tammy Wynette, so genau kann er sich nicht erinnern, vielleicht auch von Dolly Parton – und fuhr zu den Russen.
Sergejs Imbiss liegt hinter der Kurve, die ins Tal führt. Die Häuser an der Straße sind reich dekoriert, sie wurden in der Kaiserzeit errichtet, als die Industrie aufblühte. Jetzt sind es Trinkerhäuser, schwarze Höhlen, Depressionshäuser, Häusliche-Gewalt-Häuser, deren Fassaden einzig durch die Leuchtreklamen für Wernesgrüner Bier und die Werbeplakate der Kago-Kamine ein wenig Farbe
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