Faktor, Jan
und nach herausgebracht werden durften,
waren es reife Meisterwerke. Sie waren schockierend anders als alles, was es
sonst zu lesen gab, sie waren so tief und zugleich so einfach zu verstehen, daß
sich auch Jugendliche auf sie stürzten, die sonst überhaupt keine Literatur
lasen. Und weil Hrabal seine Texte sehr lange zurückhalten mußte, erschienen
seine Bücher hintereinander in erschreckend schnellem Rhythmus. Hrabal hat das
Tschechische gereinigt und bereichert, keine Übersetzung in eine Fremdsprache
wird diese Qualitäten widerspiegeln können. Die Leute machten dauernd
hrabal-schwere Anspielungen, man sprach und intonierte etwasanders, man ließ
spontan und hemmungslos jeden Unsinn aus sich fließen - mit der Überzeugung,
etwas Tiefe würde sich darin, wie bei Hrabal eben, schon finden. Wenn man auf
den Straßen junge Leute - meine Zeitgenossen - vor Lachen laut brüllen hörte,
konnte man sicher sein, daß sie sich gerade über die neusten Hrabalgeschichten
ausgetauscht hatten. Etwas anderes las man eine Zeitlang gar nicht. Einen
kleinen Haken gab es dabei allerdings: Viele der Geschichten von Meister Hrabal
spielten nicht in der Gegenwart, sie waren teilweise in einer so gut wie
versunkenen Welt angesiedelt. Jeder Leser mit Phantasie wurde trotzdem ein Teil
dieser rückverwurzelten Kunstwelt. Daher war man, besonders wenn man - wie ich
- in den sechziger Jahren zu lesen begonnen hatte, nicht ganz von dieser Welt.
So gesehen leisteten sich die Tschechen, leisteten wir uns alle in dieser Zeit
den Luxus, in unserem Alltag Literatur zu leben. Erst die Russen brachten uns
die Realität wieder.
Die Jahre
bis zum Einmarsch waren dagegen voller unschuldiger Naivität und Optimismus,
man leckte sich an den neuen Freiheiten überall satt, löffelte, wo es nur ging.
Von den kommenden Abstürzen ahnte man noch nichts, man freute sich ungehemmt
auf alles, was die Zukunft noch bringen sollte. Und jedermann versuchte - frei
nach Hrabal eben -, wenigstens punktuell auch die einfachsten Dinge des Alltags
wie Weltereignisse zu feiern. Man ärgerte sich grundsätzlich nicht, genoß die
kleinen oder größeren Absurditäten des Lebens und lachte über sie so viel wie
möglich - egal, wie weit man vom vernünftigen Weg schon abgedriftet war.
Bildlich gesprochen: Man öffnete im Winter die Fenster und wärmte sich weit
draußen die Hände - wie in Hrabals Erzählung »Prager Krippenspiel«. Ein Mann
reibt sich dort seine Hände im Schneegestöber, weil es im ausgekühlten Gebäude,
in dem er gerade zu tun hat, noch wesentlich kälter ist. Das Gebäude ist zu
alledem eine ehemalige Synagoge voller abgestellter Theaterkulissen - daherauch
voller ehemaliger Inszenierungen. Vielleicht haben wir es dem von Hrabal
unabsichtlich eingeleiteten mentalen Training zu verdanken, daß das
tschechische Volk rechtzeitig auf seine spätere Nacheinmarsch-Proletarisierung
vorbereitet wurde. Als der Kahlschlag dann begann, stand man im Grunde in den
Startlöchern.
Nachdem
unser Land von den befreundeten Armeen befriedet worden war, kam es allerdings
nicht zur Bildung einer großen subkulturellen Gemeinschaft aus weisen und
fröhlichen Individuen. Dazu war die Realität nicht witzig genug - und auch die
humorvollsten und weisesten Männer des Landes wurden in ihren niederen Berufen irgendwann
müde und tiefernst. Die meisten Tschechen kehrten sowieso nach und nach - trotz
Hrabal - wieder zu ihrem Pragmatismus und ihrer Verschlagenheit zurück. In den
vergangenen Jahrhunderten war unseren Vorfahren meistens auch nichts Besseres
übriggeblieben.
Ich hatte
vor, unbedingt zu den vielen Alt- oder Neuproletariern zu fliehen. Das schien
mir der einzig klare Radikalschritt und einzig mögliche Ausweg zu sein. Dort
unten wollte ich vor allem - verdreckt wie nur möglich - für spätere Zeiten
sauber bleiben. In dieser häßlichen Zeit, dachte ich, müßte das Leben gerade
dort ganz wahrhaftig sein, den substantiellen Dingen jedenfalls am nächsten.
Einfache Straßenkehrer kannte ich schon - ein mit meiner Mutter befreundeter
Schriftsteller war einer -, dieses Leben fand ich aber nicht aufregend genug.
Und nur bedingt lustig. Dieser Bekannte fegte sich im Park - ganz in Gedanken
versunken - einmal an einer echten Leiche vorbei und wurde daraufhin von der
Polizei verhört.
- Sie
fegten einfach weiter und beachteten den toten Körper gar nicht? Diesen Unsinn
sollen wir Ihnen glauben?
- Es war
viertel nach sechs, und ich war furchtbar müde, sagte der
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