Faktor, Jan
und Staatsführung horte irgendwo dort im
Untergrund (unter dem marmornen Stalin-Sockel?) die besten Kartoffeln, die der
tschechische Boden hergab - und die Kader würden die begehrten länglichen
»Hörnchen« nur unter sich verteilen. In den Läden sah man diese Delikatesse
tatsächlich nie. Meine Mutter empörte sich, diesmal aber nicht gegen unsere Bonzen.
Sie fand es unwürdig, solchen Gerüchten Glauben zu schenken, und unanständig,
sie ungeprüft zu verbreiten.
- Das kann
nicht stimmen. So etwas dürfen die Parteileute nicht, so etwas tun sie auch
nicht! Unser Vorteil - also der der Affenbande und nun auch meiner - war, daß
unsere Staatsführung sich damals keiner aktuellen terroristischen Bedrohung
ausgesetzt fühlte. Videokameras gab es damals zwar schon, man nannte sie
»industrielles Fernsehen« - diese Technik war aber aufwendig, und die Kameras
waren viel zu groß. Überwachungstechnik wurde auf der Baustelle also nicht
installiert, offenbar auch keine Lichtschranken, keine Stolperfallen, von
Selbstschußanlagen aus DDR-Produktion gar nicht zu sprechen. Besonders
mannstark schien dieses geheime Objekt auch nicht umstellt worden zu sein. Das
Volk wußte, daß es einiges nicht wissen durfte, und lugte meistens nicht einmal
zwischen die Bretter der Zäune. Die Wachen hatten zwar einige Hunde, diese
waren aber offensichtlich - abgestumpft durch die vielen Laster-Abgase und
übersättigt von den Gerüchen aus einer Ausfluggaststätte in der unmittelbaren
Nähe - etwas indifferent bis riechfaul geworden. Das hatte die Affenbande schon
im Vorfeld in Erfahrung gebracht. Und obwohl man von den Bäumen der Umgebung
das ganze Gelände problemlos überblicken konnte, entschied Dschagarow eines
Tages, ein Kommandounternehmen zu starten.
- Eine
Prüfung vor Ort ist immer besser. Dschagarow war ein erfahrener Anführer. Er
teilte die Mannschaft in zwei Vorausspäher für die »eigentliche Operation« und
in einen Basistrupp, der direkt auf dem Gelände Stellung beziehen sollte.
Dieser Basistrupp sollte von einer ausgemachten Stelle aus die Fluchtwege -
also die Schwachstellen des Zauns - überwachen und nach Möglichkeit freihalten.
Dann gab es noch den »Schmiertrupp«. Ich stand als untergeordneter Räubergast
also Schmiere - ganz allein. In der gerade laufenden Probephase hatte ich nur
den Status eines Geduldeten. Während der Vorbereitung waren mir allerdings alle
geheimen Kriegspfade der Bande im Hang unterhalb der sowieso immer bewachten
Kramäf-Villa gezeigt worden - an sich schon ein großer Gewinn für mich.
Ebenfalls vor der Aktion hatte ich von Dschagarow erfahren, woher er sein
Wissen für derartige Einsätze bezog: Wenn seine tschechische Mutter nicht zu
Hause war, sah er sich oft Kriegs- und Spionagefilme an, besonders gern
bulgarische Spionagestreifen, die damals nicht zufällig so beliebt waren - sie
hatten offenbar ein gewisses Niveau. Sie besaßen vielleicht sogar so etwas wie
Realitätsnähe.
Unser
Angriff auf die Verteidigungsbastion des Staates verlief völlig unspektakulär.
Als einer der Späher hinter einem Sandhaufen einige Arbeiter mit Bierflaschen
erschreckt hatte, kam es zu einem nicht besonders geordneten Rückzug der
gesamten Mannschaft.
- Haut
bloß hier ab, Mann! schrien die Männer gedämpft.
Auf dem
freien Gelände hinter dem Zaun rannten wir anschließend nicht im Pulk
auseinander und nicht in dieselbeRichtung. Daß wir uns so weitflächig verteilt
hatten, war eher panikbedingt, entsprach nur teilweise unserem Plan »C«. Ich
lief bis nach unten zur Moldau und dann sogar bis zui übernächsten Brücke.
Anschließend wechselte ich auf die andere Moldauseite, ging am
Landwirtschaftsministerium, an der Parteizentrale, an der Zentrale der
weltumspannenden Gewerkschaftsbewegung und an der Juristischen Fakultät vorbei
- und kehrte erst über die Karlsbrücke und die Kleinseite zurück. Als wir uns
an einer verabredeten Stelle im Chotek-Park nach etwa zwei Stunden trafen,
erfuhr ich, daß auf der Baustelle überhaupt nichts Verdächtiges zu sehen
gewesen war. Natürlich auch keine einzige fallengelassene Kartoffel. Als ich
meinem Vater von unserer Aktion und den Gerüchten über die Kartoffeln und das
Krankenhaus - leise auf seinem Balkon - erzählte, sah ich ihn zum ersten Mal
blaß werden. Er verriet mir nichts und verbot mir, Dschagarow in der Zukunft
als meinen Kumpel zu betrachten. An den Wochentagen hatte mein Vater allerdings
keinerlei Macht über mich.
In
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